Montag, 7. Mai 2012

Einfach mal glücklich sein














Vorspiel
Um 10 Uhr klingelt das Telefon und ist damit nur um Sekunden schneller als der Wecker. Herr L. ist am Apparat und will von mir die Abfahrtszeit wissen, um die ich mich natürlich noch nicht gekümmert hab. So wie immer halt, wird schon klappen. Ich bin im Stress, ich brauche noch Utensilien für das Rauchvergnügen und muss zur Tanke. Die Esso hat nichts, die Aral auch nicht, der Mann bei Shell schickt mich zum Bahnhof, Stiehlke hat das, was ich suche. Dabei verdaddel ich eine halbe Stunde kostbare Zeit, das geht alles vom Frühstück ab.
Wenigstens den Bäcker kann ich dafür auslassen, ich hab Paderborner Brot gekauft. Schwein gehabt, dass mich vor ein paar Tagen jemand darauf aufmerksam gemacht hat, sonst hätte ich womöglich Paderborner Pilsner zum Frühstück trinken müssen. Die erste Scheibe geht noch halbwegs runter, langsam gerate ich in Zeitnot. Während ich mich anziehe futtere ich eine zweite Scheibe, Schal um den Hals, den letzten Bissen reingestopft und wech..
Zwei Tore gegen Paderborn? Reicht das? Wahrscheinlich platzt dieser ganze Orakelblödsinn heute sowieso, oder wir kassieren zwei Tore, weil ich auf der Haupttribüne sitze. Ausgerechnet für das letzte Spiel der Gegengerade, noch ein schlechtes Zeichen, ganz sicher. Ohnehin steht hier wieder alles auf Sturm, dämliche Presse, dämliche Trainerdiskussionen, reihenweise Spieler die gehen, dieser Verein zerrt auch dann an den Nerven, wenn er sportlich und finanziell eigentlich gut dasteht. Irgendwas ist immer, und wenn nicht, dann sorgt schon irgendwer für Stress. Das wiederum sorgt dafür, dass ich nach Rostock schon zum zweiten mal hintereinander mit Scheißlaune zum Fußball fahre.
Am Mülleimer der Bushaltestelle fällt mir ein Aufkleber auf, Stellinger Reviermarkierungen. Wuff. Der Platz ist gut gewählt, Müllexperten unter sich. Der Bus kommt pünktlich, aber nach ein paar Stationen gibt es unvorhergesehene Probleme. Eine Familie steigt zu, Vater, Mutter, kleines Kind. Vaddern ist lattenstramm und kann sich kaum auf den Beinen halten, reife Leistung für Sonntag 12 Uhr denk ich noch, aber die Diskussion um seine Fahrkarte will kein Ende nehmen und das nervt. "Die is von ccheute" lallt er mit schwerer Zunge und unverkennbar russischem Akzent, aber der Fahrer zeigt sich unnachgiebig. Gott sei Dank ergreift seine Frau die Initiative, zahlt endlich den Fahrpreis und schubst die Schnapsleiche in Richtung Sitzbank, wo sie sofort in sich zusammensackt. 
Das hätte auch keine zwei Minuten länger dauern dürfen, ich bekomme gerade noch die U-Bahn, schaff es aber nicht mehr zu den Jungs in den ersten Wagen. Macht nichts, wir müssen wenig später sowieso gemeinsam umsteigen.
Im Stadion schnell Bier holen, Herr L. braucht seine Bratwurst, dann ab auf den Platz. Mal gucken wie die Haupttribüne so ist, und Fotos machen von der Gegengerade. Die letzten Aufnahmen, bevor die alte Heimat einer neuen weichen muss. Ein letztes mal Konfetti und Bierduschen auf den ausgetretenen alten Stufen. Ein würdiger Abschied soll es werden, das hat sie sich verdient. Von der Süd werden Spieler verabschiedet, Calle Rothenbach, Deniz Naki, seltsamerweise auch Fabio Morena, ich hoffe auf einen Irrtum, aber zur Zeit ist alles möglich.


Spiel (1)
Die Geräuschkulisse in dieser Ecke habe ich befürchtet, so dicht am Gästeblock hört man fast nur Paderborner. Die fallen durch durchgehend lauten Support auf, durch schwarze und blaue Luftballons und leider auch durch Pyrotechnik. Auffälliger jedenfalls als ihre Mannschaft, die nicht so wirkt als wolle sie die kleine Chance zum Aufstieg mit letzten Mitteln nutzen. Unsere Jungs sind engagierter und haben das Spiel über weite Strecken im Griff, von den gefährlichen Leuten wie Proschwitz und Alushi ist wenig zu sehen.  Wenn sich überhaupt mal Chancen auftun, dann auf unserer Seite, aber zwingend ist das noch nicht, wir rennen uns zu oft fest in der Deckung. Nach zwanzig Minuten erhöhen wir den Druck und Paderborn fängt an zu schwimmen, das sieht oftmals brenzlig aus im Strafraum, das Runde nähert sich dem Eckigen. Die ersten gefährlichen Dinger können sie noch klären, aber in der 30. Minute ist es so weit, Lasse Sobiech hat die Lufthoheit und schädelt einen Eckball unhaltbar in den Winkel. Woohoo, das hab ich ihm echt gegönnt, endlich hat er seine Kopfballstärke mal vorne nutzen können. Kurz darauf wieder eine Ecke, wieder gefährlich, aber der Nachschuss bleibt hängen. Dafür spielt Ebbers beim nächsten Angriff den Ball wunderschön per Kopf in den Lauf von Kruse, der alleine auf den Paderborner Torwart zuläuft und eiskalt abschließt. Woohoo, 2:0 in wenigen Minuten, das macht Spaß. Nur schade, dass keine weiteren Tore mehr fallen werden, ich hab schließlich nur zwei Scheiben Paderborner Brot gegessen.  Dementsprechend gelassen seh ich die letzten Minuten bis zum Halbzeitpfiff.

Zwischenspiel
Haupttribüne ist nicht so mein Ding stell ich fest. Hoffentlich planen die in der neuen Gegengerade mehr Getränkestände ein, bis ich endlich am Tresen angekommen bin habe ich 3 weitere Bier auf dem Zettel. Kulinarisch siehts auch bescheiden aus, Bratwurst oder Fischbrötchen, kein Vergleich mit der Auswahl auf der Gegengerade. Die hab ich zwar nie ausgenutzt, aber irgendwann möchte ich ja vielleicht doch mal einen Halbzeitcrepe essen, wer weiß das schon. Die Jungs sind mit ihren Plätzen in Block H1 ganz zufrieden, guter Support in der letzten Ecke, scheinbar besser als bei mir in H2, wo es selten gelingt die Leute vom Sitz zu reißen. Akustisch kommt von den anderen Tribünen kaum etwas an, der Paderborner Fanblock ist zu laut, nicht mal der Süden ist wirklich gut zu vernehmen. Wäre genau die richtige Ecke für Leute, die sich vom Dauersingsang der Ultras genervt fühlen, wenn die Gästemannschaften nicht auch immer Ultras mitbringen würden.
Zeitlich reicht es trotzdem noch locker, bis zum Wiederanpfiff  sind alle mit Getränken versorgt und ich kann wieder auf meinen Platz. Den erreiche ich, als die Gegengerade gerade die Gerade gegen Bullenschweine tapeziert, was voraussichtlich wieder Geld kosten wird, weil irgendein Bul Polizist garantiert beleidigt ist. 

Spiel (2)
Ich erwarte nichts und werde überrascht, die Jungs machen da weiter, wo sie vor der Pause aufgehört haben, es geht überwiegend in die richtige Richtung. Paderborner Vorstöße sind bei unserer Defensive gut aufgehoben und ich frag mich langsam, wie die so weit nach oben gekommen sind. Da hat Rostock hier mehr gekämpft. Der Gästeblock wird leiser und bei uns versucht man einen Wechselgesang mit der Gegengerade, der leider nicht klappt, weil unsere Ecke dort ganz sicher nicht zu hören ist, und weil Bartels beinahe das 3:0 erzielt. Kurz darauf macht Ebbe wieder den Vorbereiter, Bruns ist durch und schiebt locker ein, womit mein Tipp hinfällig ist. Woohoo, wenn die Haupttribüne schon als Orakelmultiplikator funktioniert, dann bitte mehr davon, es fehlt noch eins. 
Das lässt auch nicht lange auf sich warten, Paderborn fällt langsam auseinander, einen groben Abwehrfehler kann Volz nutzen, der den Ball über den Torwart hinweg zum 4:0 in die Maschen setzt. Zwischenzeitlich helle Aufregung auf den Tribünen, Duisburg soll 4:2 in Düsseldorf führen, das heißt Relegation gegen Hertha. Bestätigen kann das aber niemand, die Apps der Smartphonebesitzer in meiner Nähe versagen ihren Dienst und ich ruf den Pappenheimer an. Alle Aufregung umsonst, es steht immer noch 2:2. Mist, die Relegationsspiele hätten gut in meine Urlaubsplanung gepasst. Dafür müssten wir noch ein paar Treffer erzielen, aber das gelingt nicht mehr, in der letzten Minute macht Naki sich und uns noch mit dem 5:0 ein Abschiedsgeschenk, der höchste Sieg der Saison ist eingetütet, die alte Gegengerade hat ein würdiges Abschiedsspiel bekommen und der nicht von allen geliebte Aufstieg ist vermieden worden, Fußballherz, was willst du mehr.  Für die nächsten 24 Stunden kann man einfach mal glücklich sein, vielleicht werden es ja sogar ein paar Stunden mehr.
Die Gegengerade bleibt noch für ein offizielles Abschiedsfoto mit der Mannschaft und singt klaun, klaun, Äppel woll'n wir klaun, Naki und Calle Rothenbach machen ihre Abschiedsrunde und kämpfen dabei deutlich mit den Tränen. Wer hier mit Herzblut gespielt hat, der geht niemals ganz. Manchen Spieler möchte man auch gar nicht gehen lassen, aber so ist das Geschäft.

Nachspiel
Raus aus der Haupt, rüber zur Gegengerade, die haben noch zwei Stunden nach Spielschluss geöffnet, inklusive Bierverkauf. Abschied nehmen, noch ein letztes Bier dort trinken, noch ein paar Fotos machen vielleicht, von den ganzen Verrückten, die für 19.10 Euro ihre Sitzschalen abschrauben und mitnehmen können. Kurz vorher werden wir von Herrn B. und Koschi abgefangen und versacken vor dem Bierwagen. Das Stadion zu betreten ist danach nicht mehr ohne Probleme möglich, die Ordner diskutieren sogar bei einem nötigen Gang zum Klocontainer, daher versuche ich es überhaupt nicht mehr. Wenn ich sehe, was da an Holz und Plastik aus dem Stadion geschafft wird, dann steht von der Tribüne nur noch die Hälfte, und traurige Reste mag ich nicht ablichten.
Als die Gruppe sich langsam auflöst marschieren Herr L. und ich in Richtung Knust, zu einer gewinnbringenden Veranstaltung von Fanräume, denn ich habe zwei Gewinnlose in der Tasche. Zwei von fünfhundert Preisen gehören mir, die Frage ist nur, welche. Möglicherweise der Hauptpreis, elf Karten für die Astra Loge an einem Spieltag der nächsten Saison, sehr wahrscheinlich nur ein Feuerzeug oder ein Aufkleber. Dazwischen alles mögliche an Trikots, Karten, Büchern, meistens mit Widmung, vielleicht ist mir das Glück ja hold.
Vor dem Knust versteigert der furchtbare "A.C." aus dem Alsterradio Devotionalien, unterstützt von Schnecke Kalla und Benedikt Pliquett. Ein Trikot von Ebbers aus der letzten Saison geht für über 200 Euro weg, das ist nicht meine Preisklasse, ich besorg lieber zwei Bier. Dabei fällt mir auf, wir sind nicht mehr alleine. Überwiegend weibliche, überwiegend schwarz gekleidete und manchmal seltsam bleich geschminkte Menschen warten vor dem Knust, um das Konzert einer Band mit dem merkwürdig kurzen Namen "D" zu sehen. Sehr wahrscheinlich nicht meine Musikrichtung, bevor sich die Pforten für das Fußballvolk schließen drücke ich Herrn L. meine Losnummern in die Hand und besuche schnell die Bierentsorgungseinrichtung.
Auf dem Weg dorthin renne ich beinahe den Quotenrocker um, der sichtlich überrascht ist von einem Wildfremden erkannt zu werden. Durch diesen glücklichen Zufall lerne ich auch noch die pauliane kennen und kann bei einem Bier meinen Gewinn mit vielen netten Leuten feiern.
War letztlich doch nicht die Astra Loge, was mir die Qual erspart zehn Freunde für diesen Tag aussuchen zu müssen. Ein Heimtrikot mit den Unterschriften der Mannschaft ist schon ganz schick für jemanden der sonst nie etwas gewinnt, es hätte auch ein Feuerzeug sein können.

Es war eine überwiegend tolle Saison, mit manchen Hängern, aber auch mit mitreißenden Spielen, mit großem Kampf und schönen Toren, vom Heimauswärtsspiel in Lübeck bis zum Abschuss von Rostock und Paderborn. Ein schöner Abschluss und ein emotionaler Abschied. Kann man einfach mal glücklich sein, wenigstens 24 Stunden.

Und dann alles auf Anfang.

Auch Tomte -  Buchstaben über der Stadt und Thees Uhlmann






















7 Kommentare:

  1. Bewegend! Besonders das Orakel. Vielleicht ist Kommissar Thiel ja deswegen in Münster. Immer Landbrot essen gegen die nordwestlichen Vereine im Umkreis.
    Holzreste als Erinnerung. Kann ich gut nachvollziehen. Ich hatte mal ein Stück Bühnenboden vom alten Star-Club. Habe ich dann aber einem grösseren Fan mit älteren Rechten zukommen lassen.
    Das kleine Glück ist oftmals das grössere.

    AntwortenLöschen
  2. Ach Mensch. Da hab sogar ich beim Lesen ein Tränchen weg gedrückt

    AntwortenLöschen
  3. Was für ein Chaos wieder bei diesem Verein, man muss sich manchmal wundern das die überhaupt was auf die Kette kriegen. Erst demontieren sie den Trainer um ihm kurz darauf das Vertrauen auszusprechen, dafür rätseln nun alle ob der Sportchef bleibt.

    AntwortenLöschen
  4. Herr Ärmel, wie erwirbt man denn Rechte an einem Bühnenboden? Gehts da nach Anzahl der alten Eintrittskarten? *g*
    Das kleine Glück ist völlig ausreichend, das große hätte in diesem Fall nur Probleme bereitet.

    Inch, ich muss bei diesem Verein öfter Tränen verdrücken, vielleicht lieb ich ihn deswegen so. Regen, Sonnenschein und so, gehört ja alles dazu.

    Holzi, hör einfach mal auf diese Gurkenpresse zu lesen, oder glaub wenigstens nicht immer alles, was in BLÖD und Morgenpest steht. Man sieht ja aktuell was von den Schlagzeilen zu halten ist. Diese Kackblätter taugen allenfalls zum Fisch einwickeln oder als Kaminanzünder.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Als der Star-Club abgerissen wurde, hat man wunderschöne Mappen gemacht und verkauft.
      In den nummerierten Mappen waren Abzüge von alten S-W Fotos des Star-Club, ein Foto-Buch
      von Günter Zint,dem Fotografen von St. Pauli schlechthin und ein Stück Holz vom original
      Bühnenboden.

      Löschen
  5. Na so ein Stück der Gegengeraden im Wohnzimmer als Zierde wären doch auch etwas nettes ;)

    Glückwunsch zu Deinem Trikot, es war hoffentlich in der passenden Größe und freut sich darauf mit Dir die nächsten Heimspiele besuchen zu dürfen.

    Apropos Orakel, geht es da nächste Saison eigentlich weiter? Hat ja dieses Jahr recht gut hingehauen. Wenn Du den Beutel mit dem Paderborner mal betrachtest sind da bestimmt noch 5 Scheiben übriggeblieben. Die würde dann ja die delphinistische Eignung des Orakls stützen.

    Ansonsten freue ich mich schon auf die kommenden Spielberichte.

    AntwortenLöschen
  6. Leider ist das Größe L, das passt vielleicht meiner Freundin, aber die zieht sowas nicht an. Vom Paderborner Brot sind sogar 8 Scheiben übrig, bei einem Haupttribünenmultiplikator von 2.5 hätte ich nur zwei weitere Scheiben essen müssen und wir wären in die Relegation gekommen, aber wer kann das ahnen.
    Das werde ich in der nächsten Saison selbstverständlich fortführen, jedenfalls solange dieser Blödsinn irgendwie funktioniert.

    AntwortenLöschen