Testspiele wollte ich mir eigentlich schenken, jedenfalls nehme ich mir das jedes Jahr wieder vor. Aber gefühlte drei Monate Abstinenz und ein relativ attraktiver Gegner wie Beşiktaş (nicht Istanbul, obwohl sie aus dieser Stadt kommen) haben mich wankelmütig werden lassen, wobei auch die erst seit einer Woche im Training sind.
Auf der Vereinsseite lese ich einen warnenden Hinweis, man sollte sich die Karten besser an den Vorverkaufsstellen besorgen, der Andrang an den Abendkassen könnte zu verspätetem Einlass führen. Geht gar nicht bei diesem Spiel, die erwarteten Solidaritätsbekundungen mit
Çarşı will ich nicht verpassen.
Also flugs Herrn L. anrufen, der kann nach der Arbeit kurz Karten besorgen, der Vorverkauf ist um die Ecke bei famila. Ans Telefon geht er natürlich nicht, ans Handy nicht, in der Firma ist er scheinbar auch nicht mehr. Dafür erreiche ich beim xten Versuch Gustl und schärfe ihm ein, seinen Bruder entsprechend zu impfen. Kaum sitze ich in der Bahn ruft Herr L. endlich an, er besorgt Karten, ich kann mich entspannen.
Weit vor Anpfiff bin ich am Stadion, schlendere ein wenig über den Südkurvenvorplatz, bewundere bei einem Bier die langen Schlangen vor den Kassen und die musikalische Darbietung auf der Bühne. Eine Stunde vor dem Spiel begebe ich mich vor die neuen Fanräume in der Gegengerade und versuche weitere Kontaktaufnahmen per Handy. Die SMS "Stehe GG vor Fanladen" bleibt unbeantwortet, nix passiert. Eine halbe Stunde später versuche ich es auf allen Kanälen, erfolglos. Die Schlangen vor dem Einlass sind gut für mindestens fünfzehn Minuten, ich hab noch nicht mal eine Karte und keinen Schimmer wo sich die Jungs rumtreiben, das geht mir derbe auf den Sack. Nach etlichen weiteren Versuchen klingelt endlich das Mobilgerät und Gustl informiert mich, sie hätten Karten, also jetzt im Moment noch nicht, aber gleich.
Sie stehen vor den Stadionkassen, also dort, wo ich vor über einer Stunde schon stand. In wenigen Minuten ist Anpfiff, drinnen gibt es Hells Bells und ich stehe mit mörderisch dickem Hals vor der Gegengerade. Wenn man nicht alles selber macht...
Das Spiel läuft schon als wir endlich unsere Plätze einnehmen, erst mal eruieren wer da unten rumläuft, ist das Gonther da hinten? Auf dem Platz sehen die neuen Trikots jedenfalls nicht soooo scheiße aus wie befürchtet, wir werden uns dran gewöhnen. Rzatkowski erkenne ich sofort, der hat die auffälligste Frisur unter den Neuen, Nöthe erkenn ich an der 9, Boller ist dabei, Thorandt und Schachten, und der andere da könnte Halstenberg sein. Was für ein Segen, dass Rachid die alle für drei Jahre verpflichtet hat, jede Saison neue Namen kann ich mir in meinem Alter nicht merken.
Von der Haupttribüne abgesehen ist der Laden ziemlich voll, schätzungsweise die Hälfte davon schafft es zu Punktspielen nicht ans Millerntor, so ein Testspielkick ist gut geeignet mal die Familie mitzunehmen. Vor mir Vadder und Sohn, neben mir Vadder mit gleich drei Kiddies und auch hinter mir kräht manch helle Stimme, ich komm mir vor wie im Familienblock.
Das Geschehen auf dem Rasen ist für ein Spiel von "wir-sind-vom-Trainingslager-noch-fertig" gegen "wir-haben-noch-gar-kein-Trainingslager-gesehen" einigermaßen ausgeglichen, ohne große Chancen auf beiden Seiten. Ausgeglichen auch der Lärmpegel, die Nordkurve fest in der Hand von Beşiktaş, der Rest unorganisiertes St.Pauli Kuddelmuddel. Trotzdem funktionieren Wechselgesänge, der Gästeblock macht sogar mit und schreit "Sankt Pauli" was unsere Fans mit einem lautstarken "Beşiktaş" honorieren. Das nenn ich wirklich mal Freundschaftsspiel, schade dass ich wohl die Solidaritätschoreo verpasst habe.
Urplötzlich fällt das 0:1 durch wen auch immer, aber bevor ich mich aufregen kann ist auch schon Abseits erkannt worden, durch wen auch immer. So ganz sattelfest ist die Abwehr nicht, aber hab ich das erwartet? Immerhin gibt es ein paar nette Einzelaktionen, manchmal ein paar schöne Spielzüge, und der Rzatkowski kann mit dem Ball umgehen, aber das hab ich schon in Bochum gesehen. Halstenberg gefällt mir auch ziemlich gut, Buchtmann und Thy traue ich den nächsten Schritt zu und trotzdem weigere ich mich, den allumfassenden Optimismus zu teilen. Die werden noch eine Weile brauchen um sich zu finden, wenn da eine positive Entwicklung stattfindet wächst vielleicht wirklich irgendwann eine Aufstiegstruppe zusammen, diese Saison wäre mir alles zwischen 4 und 7 ganz recht.
Auf dem Platz bemüht man sich weiter ohne Erfolg, aber man bemüht sich immerhin. Als ich noch überlege eine Lage Bier zu holen, was ich bei Punktspielen rigoros ablehne, fällt doch noch ein Treffer. Einfach mal abziehen heißt die Lösung, 1:0 für uns durch Boller, wer sonst könnte solch glänzende Idee haben. Kurz vor dem Halbzeitpfiff und unterm Strich verdient, denn so viel kam von Beşiktaş nicht.
Wie bei Testspielen üblich wird in der Halbzeit gewechselt auf Teufel komm raus, bei BJK scheinbar die ganze Mannschaft, bei uns sind mit Nehrig, Kringe und Maier zweieinhalb "neue" Leute auf dem Platz. Die Kamera ist gerade wieder in der Hosentasche verschwunden, da kommt von unten eine Tapete angeflogen und wird in Windeseile nach oben durchgereicht, so schnell krieg ich die Knipse nicht mal eingeschaltet wenn ich sie in der Hand habe. Lässt sich auch später auf den Fotos nicht entziffern was Ölene Kadar da gepinselt hat, aber ich kann eh kein Türkisch, wird schon passen.
Danach will ich mich endlich wieder auf das Spiel konzentrieren, doch die Kinderbank neben mir hat inzwischen auch komplett durchgetauscht, inzwischen sitzt Vaddern neben mir und hat endlich einen erwachsenen Gesprächspartner. Nein, das da ist Kringe, der hat auch letztes Jahr schon bei uns gespielt. Achso. Na denn Prost. Der Kleine in der Reihe vor uns wird auch langsam zappelig, so ein Fußballspiel ist arg lang wenn man es nicht gewohnt ist. In der Reihe hinter uns schreit ein Kind, hört sich nach Flasche, Windel oder Bett an. Nicht nach Stadion.
Auf der Nordtribüne tobt der Bär. "Wie bekloppt muss man eigentlich sein, diese Strecke für ein Testspiel zu fahren?" frage ich Herrn L. Diese hypothetische Frage wird nur wenige Minuten später beantwortet, durch Böller und Fackeln. Es rummst wie im Krieg, neben so einem Ding möchte ich nicht stehen wenns knallt, völlig bescheuert. Das Stadion qualmt wie bei einem Großbrand, das Spiel wird unterbrochen und unsere liebe Stadionsprecherin findet das alles mal so richtig Scheiße, was sie entsprechend deutlich kommuniziert. Bei den Böllern bin ich durchaus auf ihrer Linie, die Dinger sind schon am anderen Ende des Stadions unerträglich laut, aber Pyrotechnik? Das ist da unten völlig normal, wer damit gerechnet hat, dass die hier nur Feuerzeuge schwenken, muss lange im Dornröschenschlaf gelegen haben. Wenn das so schlimm ist, dann kommt nächstes Jahr eben Viktoria Schilderstadt, die ziehen aber keine 18.000 ins Stadion. Zu einem Testspiel!
Glücklicherweise sind die Vorräte an Idiotenspielzeug auch irgendwann erschöpft, ein Spielabbruch schon vor der eigentlichen Saison wäre zwar selbst hier etwas Neues, muss ich aber nicht haben. Neues gibts auf dem Feld, Verhoek und Gregoritsch muss ich selber entziffern, die Lautsprecherdurchsage ist entweder unverständlich, oder Daggi hat Probleme mit der Aussprache. Das Spiel wirkt inzwischen etwas zerfahren, aber wenn mal etwas in Richtung Tor geht, dann bei uns. Wenn die Truppe ordentlich zusammenwächst werden wir noch viel Spaß haben diese Saison, davon bin ich überzeugt. Nächste Woche kommt der Lieblingsgegner, da muss noch etwas an der Treffsicherheit gearbeitet werden und mal ein paar schöne Spielzüge konsequent bis zum Ende durchführen wäre auch ganz nett. Möglichst ohne Ablenkungen, ohne Sprengkörper, ohne Kindergeschrei und Flitzerfangaktionen, denn das hat mit Fußball nix zu tun.
Garantiert aber wieder mit einem leckeren Wutburger hinterher, den hab ich so vermisst. Im Stadion dauert mir das zu lange, also auf in Richtung Südkurve. Auf dem Vorplatz endlose Schlangen, ich seh mein Bier schon in weiter Ferne, doch die wollen Gott sei Dank nichts zu trinken, die wollen Autogramme. Stimmt ja, ist Rahmenprogramm, ich lach mich schlapp. "Du stellst Dich da jetzt zwei Stunden an und holst uns beiden ein Autogramm von Boller, mit persönlicher Widmung" wird Gustl aufgefordert, holt aber nur Bier. Immerhin ein Anfang und auch viel nötiger als ein Autogramm, selbst von Boller.
Trotz der langen Pause werde ich vom Veggiemann wiedererkannt und überschwänglich begrüßt, führe ihm zwei neue Kunden zu und genieße den fast warmen Restsommerabend mit einer letzten Hopfenkaltschale und ziemlich gutem Balkanklezmerpunkgeschrammel einer Band, deren Namen ich unbedingt noch herausfinden muss. Die Fanräume guck ich mir dann nächsten Freitag an.
Ach ja, auf diesem Wege ein herzliches Dankeschön an die vielen Jungs und Deerns, die gerade fleißig dabei sind unser Wohnzimmer ganz superfantastisch anzumalen. Sa-gen-haft!
Und bis ich den Namen der Balkanklezmerpunkschrammelband herausgefunden habe gibt es weiter Klassiker:
Pearl Jam - Ten/Vs. Neue CD im Oktober *freu*