Vorspiel
Es ist noch keine Woche her, da war der Abstieg für mich besiegelt. Diese Pleite gegen Darmstadt versprach keine Hoffnung mehr, das war nur noch grausam was da auf dem Platz ablief. Keine Hoffnung mehr, keine Rettung in Sicht und das schon nach der Hinrunde. Schon mal geguckt welche Auswärtsspiele außer Kiel so in Frage kommen nächste Saison. Was für Gegner. Sonnenhof Dingsdabums, voll deprimierend. Können wir uns Jahre mit beschäftigen.
Nur eine Woche später ist die Depression einer Mischung aus Spannung und Hoffnung gewichen, freue ich mich das erste Mal seit langer Zeit auf ein Heimspiel. So richtig wie es sich gehört, mit Kribbeln im Bauch und neuem Glauben. Dabei ist fast nichts passiert, wir haben nur einen neuen (alten) Trainer eingestellt und den alten (jungen) Trainer zum neuen Sportchef gemacht, damit er nicht entlassen werden muss. Und ein Auswärtsspiel verloren, wenn auch nicht so übel wie befürchtet.
Dass solche Kleinigkeiten dennoch Anlass zur Hoffnung geben liegt entweder daran, dass man als gebeutelter Fan bereit ist zum letzten Strohhalm zu greifen, oder am Namen des Trainers von dem man sich Rettung aus höchster Not erhofft. Wenn dann ein Trainer geholt wird, von dem man schon immer dachte, dass der zu St.Pauli passt wie Arsch auf Eimer, dann ist das schon eine kleine Beruhigungspille. Wenn der in seinen ersten zehn Minuten Pressekonferenz trotz der prekären Lage Souveränität ausstrahlt, wirkt wie jemand, der genau weiß was er tun muss um den Kahn wieder flott zu machen, dann ist das geradezu Balsam für die geschundene Fanseele. Pep Guradiola hätte jedenfalls nicht mehr Wirkung erzielen können, sogar unser neuer Präsi kommt während der PK aus dem Grinsen nicht raus, das ist richtig ansteckend.
Erschreckend ansteckend sogar, voll die Aufbruchstimmung, ich stehe schon auf bevor der Wecker eine Chance hat mich zu nerven. So kann ich ein bis zwei Kaffee mehr trinken und mal bei Twitter und im Forum gucken, ob noch jemand diese Aufbruchstimmung verspürt. Eventuell wird das Spiel ja auch abgeblasen, denn draußen bläst es wie Sau. Sturm, Regenschauer, Hagel, sogar Schnee ist dabei. Was passiert eigentlich bei Sturm mit der offenen Nordkurve? Wenn es da volle Kanne reinpustet und der Ball sofort wieder zurückkommt?
Der ungemütlichen Witterung begegne ich mit entsprechender Kleidung. Der neue FCSP Museumshoodie ist sowat von kuschelig, davon kauf ich mir noch einen. Vielleicht wird das ja ein Glücksbringer, ich hab schon ewig keinen neuen Kram getragen beim Spiel. Regenjacke muss auch, obwohl das Ding saublöde Sachenverliertaschen hat, da muss man auf sein Zeug aufpassen wie Hulle. Nass werd ich trotzdem, doch diese seltsame Hochstimmung verdrängt sogar den ätzend nasskalten Wind der mir direkt ins Gesicht bläst. Alles egal heute außer drei Punkte.
U-Bahn St.Pauli schnell noch den Übersteiger kaufen, Stadion entern, Bier holen, Platz suchen. Eine Stunde Zeit mit den Nachbarn zu schnacken, schon wieder viele neue Gesichter dabei, überall gespannte Vorfreude. Heute wird das was, ganz sicher. Wir sind dran, Ewald wird der Wendepunkt. Endlich wieder ein Fachmann, sogar neue Aufkleber mit dem Fachmann soll es schon geben, muss ich unbedingt besorgen, Lienen fand ich schon als Spieler cool. Hätte immer schon gepasst hier.
Der Meinung sind viele, denn Ewald wird sehr freudig und lautstark empfangen bei der ersten Platzbegehung, macht gleich mal die Runde und grüßt die Kurven wie weiland Truller vor den Spielen. Die Faust hat gefehlt, die war zu lange in der Tasche. Das wird was heute, ganz sicher. Das muss einfach, jetzt oder nie, kein Bock auf deprimierende Winterpausenstimmung. Kann man gleich mal abschütteln und ne Runde singen, prächtige Stimmung auf der Gegengerade, und das am Samstag um diese Zeit, da kann ja was werden.
Aus Aalen ist kaum Anhang dabei, irgendwas um 300 Gästefans auf der Haupttribüne bekommen ihre Hymne, die sogar halbwegs hörbar ist wenn man den Text ausblendet und damit besser als 99% aller Gästehymnen, was allerdings keine große Kunst ist. Lienen vertraut weiterhin auf Himmelmann im Tor, Startsev ist für den gesperrten Schachten dabei und auch der viel kritisierte Herr Nehrig kommt zu einem Startelfeinsatz. Neuer Trainer, neues Glück, sogar Trybull darf zumindest mal auf der Bank Platz nehmen, ich bin schon sehr gespannt wer die Chance nutzt bevor sein Name bei Verkaufsgesprächen fällt.
Die Süd glänzt mit einer wunderbaren Zettelchoreografie, die Gegengerade mit Konfetti und Lautstärke. Da mein Nachbar eine neue Runde Bier geholt hat stellt mich das vor ungeahnte Probleme, ich muss gleichzeitig singen, trinken, fotografieren und mein Bier vor fliegenden Papierschnipseln bewahren. Dabei fällt mir etwas aus der Tasche, was glücklicherweise von meinem Hintermann entdeckt wird, der grinsend eine meiner vorgebastelten Sportzigaretten aufhebt und mir überreicht. Damit kann ich auch gleich die beginnende Nervosität bekämpfen und die Kamera wegpacken. Endlich gehts los.
Spiel (1)
Nach ein paar Minuten merkt man schon, die Jungs wollen, die geben richtig Gas. Das hat sofort Auswirkungen auf die Ränge, die geben auch Gas, so laut war es lange nicht. Jedem hier im Stadion ist bewusst wie wichtig dieses Spiel ist, dass wir heute die Wende einleiten müssen, jeder Ballgewinn wird gefeiert. Neben uns haben ein paar Jungs 'nen Disco-Gonther-Song kreiert, können sich damit gegen die bewährten Chants aber noch nicht durchsetzen. Gegen die Aalener Abwehr können wir uns auf dem Platz auch nicht so recht durchsetzen, aber wir nähern uns an, gewinnen langsam Ballsicherheit. Ratsche setzt einen knapp daneben und nach einer Viertelstunde ist nur noch die blöde Latte bei Lennys Kopfball im Weg, das hätte es sein müssen. Bis dahin ist Aalen recht harmlos, doch plötzlich daddeln sie ungestraft vor unserem Strafraum herum. Hallo! Das wollten wir unterbinden! Bevor da einer abziiiiehgittverdammtescheiße, da zieht auch schon einer ab, aus vollem Lauf, aber Himmelmann kann das Ding festhalten. Manmanman ey, das ist die zwanzigste Minute gewesen, wenn der sitzt gucken wir wieder dumm aus der Wäsche. Bloß keinen Break jetzt.
Kurzer Schock, nix passiert, abschütteln und weitermachen. Im Gegenzug ist es Dennis Daube der einfach mal abzieht, aber bevor ich Tor schreien kann klatscht das Ding an den Pfosten. Bäm! Kollektives Stöhnen. Gnaaaa, das is zum Nägel kauen, warum zum Teufel kann das Ding bei uns nicht mal rein gehen? Das ist so typisch, als Tabellenletzter braucht man dreimal mehr Chancen für ein Tor, aber fängt gleichzeitig die dämlichsten Dinger. Wir sind weiter deutlich aktiver, kriegen endlich die zweiten Bälle, setzten schneller nach, aber wenn wir mal ne Ecke kriegen ist die Ausführung zu harmlos. Lenny versucht es aus der Entfernung, ist ohnehin ein Aktivposten da unten, scheitert aber am Torwart oder wird geblockt. Da kann man noch so häufig "St.Pauli schießt ein Tor" singen, es fällt einfach keins.
Die erste gelbe Karte geht an Aalen, für ein böses Foul an Ratsche. Der ist gerade erst aus dem Lazarett raus du Arsch! Wildes Gepöbel und Freistoß für uns, den haut Daube in den Aalener Strafraum, wo der Ball irgendwie rumflippert, rausgekickt wird und dann John Verhoek vor die Füße fällt. Johnny fackelt nicht lange und haut das Ding aus gut 16 Metern in die Maschen. Woohooooooo 1:0. Ein Tor, ein Tor ein Tor ein Tor. Grenzenloser Jubel und grenzenlose Erleichterung. Wir können es noch, also in Führung gehen wenigstens. Vielleicht sogar mehr. Am besten jetzt gleich, nachlegen. zweites machen. Kantersieg allez!
Noch zehn Minuten bis zur Halbzeit und sie versuchen es weiter, lassen so wenig nach wie die Anfeuerung auf den Rängen, das macht endlich wieder Spaß hier. Was beinahe noch wichtiger ist, die Defensive hat wenig Arbeit mit Aalen, Sobiech hat wie immer Lufthoheit, Nehrig (!) ist richtig griffig in den Zweikämpfen, wir lassen bis auf ein paar kleine Wackler nicht viel zu und gehen mit 1:0 in die Pause. Nimmt man die zwei Klatscher ans Gebälk hätten es gerne drei Treffer sein können, aber wer weiß wie das hier gelaufen wäre wenn die erste Aalener Chance gesessen hätte.
Zwischenspiel (1)
Überall freudestrahlende Gesichter, es ist nicht nur die Führung, das ganze Auftreten der Mannschaft macht Spaß, zwischen dem gegen Darmstadt und heute liegen Welten. Der Dartmeister grinst wie ein Honigkuchenpferd, sogar der Lange hat sein kurzzeitiges Torwartrückpasswassolldennderscheißgepöbel eingestellt und macht einen halbwegs zufriedenen Eindruck. Das hat deutliche Auswirkungen auf die Frequenz der Bierholer, zusammen mit den paar Bechern Frühstückskaffee wird mich das an die Grenze bringen heute. Der Klönschnack mit den Nachbarn fordert natürlich wieder Tribut, von Halbzeittapeten bekomme ich nur wenig mit, das Spiel fördert eindeutig den Redebedarf. Keiner hatte Ewald auf dem Zettel, aber alle sind sich einig, etwas besseres konnte uns nicht passieren. Nicht eine skeptische Stimme dabei, das habe ich bei Frontzeck noch ganz anders erlebt. Als Tabellenletzter ist man aber wahrscheinlich schon froh, wenn es überhaupt jemand machen will.
Spiel (2)
Halstenberg ist raus, für ihn kommt Daniel Buballa, das war es an Änderungen. Weiter in der Offensive, was leider von hier aus nicht mehr so genau zu verfolgen ist, wir spielen auf die Nordlücke. Der Support ist auch nicht mehr so dolle, das ging vor der Halbzeit noch wesentlich lauter, da muss etwas passieren. Nach zehn Minuten Eckball für uns, Daube bringt den rein und auf einmal reißt alles die Arme hoch, Tor, 2:0. Woohoo, was war das denn? Direkt verwandelt? War da wer dran? Der Lieblingsstadionsprecher nennt Lasse Sobiech als Schützen, der wird langsam zum Torjäger, schon sein drittes oder viertes wenn ich mich nicht täusche.
Auf dem Rasen wird es giftig, Rudelbildung nach nem Foul an Himmelmann, dann eine gelbe Karte für Nehrig, eine weitere für einen Aalener Spieler, der Schiri wird bunter, das Spiel leider nicht. Wir verlieren langsam die Kontrolle, die Ballverluste häufen sich und bringen die Abwehr in Verlegenheit. Das muss doch mal jemand merken. Hier oben wenigstens, aber es dauert gute zehn Minuten bis die Gegengerade realisiert, hier läuft was in die falsche Richtung. Wir müssen lauter werden, endlich lässt sich die Umgebung wieder mitreißen. Rzatkowski geht vom Feld, für ihn kommt Nöthe. Macht Sinn, so wahnsinnig effektiv war Ratsche heute nicht. Chancen gibt es inzwischen auf beiden Seiten, Aalen ist halt eine der Mannschaften auf Augenhöhe. Blöde nur, dass wir nächstes Jahr auch gegen ganz andere Mannschaften punkten müssen um aufzuholen. Letzter Wechsel bei uns, Nehrig geht raus und Tom Trybull kommt. Der war eigentlich sowas von weg vom Fenster, doch Lienen muss er irgendwie aufgefallen sein, womit auch immer. Training kann es kaum gewesen sein.
Es schüttet ohne Ende, der Rasen sieht inzwischen aus wie der letzte Acker. Hamburger Wetter meets Kampfsportkick, das hinterlässt Eindruck. Kurz vor Kampfsport ist auch Startsev, der unsanft ausgebremst wird und seinem Aalener Gegner ein Gespräch aufdrängen will. Als Konsequenz sehen beide den gelben Karton und Aalen bekommt, aus welchen obskuren Gründen auch immer, den Freistoß zugesprochen. Kaum hab ich mich wieder abgeregt rechtfertigt Tom Trybull seinen Einsatz, legt schön quer auf Lenny Thy und der macht das Ding. Jaaaaaaaaaaaaaa Dreinull, wie geil ist das denn. Woohoo, und es hat genau der richtige gemacht, das hat Lenny sich echt verdient, starkes Spiel heute von ihm und endlich die Belohnung.
Die Abklatschrunde wird immer größer hier, dazu ein frisches Bier in Empfang nehmen, noch einmal die Fäuste ballen, sich umdrehen und sehen wie der Ball durch Himmelmanns Hosenträger geht, 3:1. Verdammt. Das tut nu nich not sowat. Es sind noch zehn Minuten auf der Uhr und jetzt wollen die hier mehr. Wunderbar, die Schwächephase haben wir uns ja schön für das Finale aufgehoben. Mein Herz Kinners, denkt an mein Herz. Voller Rückfall in den Stocherfußball, wir lassen uns schon vor dem 3:0 die ganze Zeit hinten rein drängen, jetzt wird es ganz schlimm. Wenigstens stimmt der Support wieder, wie immer wenn es eng wird. Man kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus. Die letzte Minute läuft und Freistoß für Aalen, Strafraumgrenze. Mein Nachbar fasst sich vor Entsetzen an den Kopf. "Das gibt drei Minuten Nachspielzeit, wenn der jetzt trifft wird das noch ne enge Kiste" wage ich eine arg düstere Prophezeiung und genau das waren auch seine Gedanken. Glücklicherweise liege ich nur bei der Nachspielzeit richtig, der Freistoß schockiert nur kurz. Außennetz. Puh.
Und dann ist Abpfiff und Jubeltrubel. 3:1. Ein Heimsieg. Dolle Sache das, hatten wir lange nicht mehr. Irgendwie haben wir uns im Laufe der Saison völlig verzettelt, da musste einfach ein Fachmann ran. Einer, der den Glauben zurückbringt wenn nur noch Liebe und Hoffnung vorhanden sind. Der darf sich dafür dann auch gerne feiern lassen, zumindest die Stimmung in der Winterpause hat er gerettet.
Nachspiel
Verabschieden dauert länger heute, von der Mannschaft und den Nachbarn, man sieht sich im nächsten Jahr wieder. Meine Becher gehen wie immer an VcA, die nach solchen Spielen garantiert deutlich mehr einnehmen, die Bechertürme sind groß wie lange nicht mehr. An der Zapfe noch ein Pilsken und dann vor die Fanräume, mal gucken wer da rumsteht. Wie immer finde ich niemanden, aber wie immer findet mich Koschi und zieht mich in die richtige Ecke, ich muss nur lange genug doof rumstehen. Herr B. fehlt, dem war sein Urlaub wichtiger als ein Heimsieg, so etwas könnte mir niemals passieren. Die Stimmung ist durchaus gemischt, wer noch halbwegs nüchtern ist sieht das Spiel ebenso, der siegestrunkene Rest sondert Dinge ab wie "Dominanz ausüben in der Rückrunde" was immerhin für Erheiterung sorgt. Wir können alle nur hoffen, dass es am Ende für Platz 15 reicht, das wird schon haarig genug. Das werden wir auch nur erreichen, wenn Ewald wirklich einen Plan hat. Und vielleicht einen Zettel mit hilfreichen Namen.
Die Tresenkurve verabschiedet sich nach dem Bier, ich muss noch im Fanladen Weihnachtsgeschenke kaufen und falle natürlich sofort über den Stickerstand. Hab ich alles schon - und kein Ewald Lienen Aufkleber dabei. "Alle wech" sagt das Stickermädel, "aber im Kiezkiecker ist einer als Beilage." Der ist sogar richtig groß, den muss ich zweimal haben, trotz des deprimierenden Covers. 3.Liga? Nu nich mehr. I ain't afraid of no ghost (no more).
Zettelhiphop: Beginner / Bambule - Fischmob / Power - Fanta 4 / 4:99