Mittwoch, 22. Mai 2019

Viele Zettel ergeben ein Buch















Biografien waren für mich immer die uninteressanteste Kategorie in der Literatur, abgesehen von den abgedrehten Drogenexperimenten eines Jerry Garcia oder Deke Leonards Geschichte der Waliser Band Man konnte mich bisher nichts dazu bewegen eine Biografie zu lesen. Schon gar nicht die Biografie eines Fußballers. Bis heute.

Das liegt hauptsächlich daran, dass Ewald Lienen nicht nur als Spieler und Trainer in Erscheinung getreten ist, sondern mir auch als politischer Mensch, Linker und Friedensaktivist wesentlich näher steht als alle Kaiser Firlefranzes und Loddars dieser Fußballwelt, ganz egal wie schön sie den Ball streicheln konnten.
Und natürlich, weil Ewald seit ein paar Jahren für den Verein meines Herzens arbeitet, wenn auch um Jahre zu spät und nicht mehr in der Position, in der ich ihn gerne sehen würde.

Natürlich fängt das Buch mit dem Ereignis an, durch das Ewald schlagartig berühmt wurde, DAS Foul der Fußballgeschichte überhaupt. Das Bild von der klaffenden Wunde auf Ewald Lienens rechtem Bein, aufgeschlitzt durch die Stollen des Bremers Norbert Siegmann, kann wohl jeder ältere Fußballfan aus seinem Gedächtnis abrufen. Selbst an Fußball eher weniger interessierte Schwiegermütter muss man nur auf dieses Foul hinweisen und sie erinnern sich wieder, wer Ewald Lienen ist. Dabei ist der Mensch Ewald Lienen sehr viel mehr.

Nach dem Prolog aus dem Schlachthaus geht es streng chronologisch weiter, Kindheit, Jugend, Schule etc. pp., recht konventionell erzählt, aber durch den immer wieder aufblitzenden Humor Ewalds und die für einen Fußballer sehr ungewöhnlichen "Nebenbeschäftigungen" in privaten, sozialen und politischen Bereichen, lesen sich die 420 Seiten recht flüssig weg, Anekdoten gibt es zuhauf.

Achtung Spoiler! 

Man erfährt, wie Lothar Matthäus ein Teil der Friedensbewegung wurde, wann er Felix Magath auf die Eier ging, wieso er auf eine mögliche WM Teilnahme in Argentinien verzichtete, weshalb er früher keine Autogramme gab, warum aus dem immer geplanten und mehrfach begonnenen Studium nie etwas wurde und warum Hannover 96 unter Martin Kind so ein Scheißverein ist, auch wenn Ewald das niemals so direkt sagen würde.

So richtig das Fett weg bekommt eigentlich niemand, außer einem Schreiberling der Vierbuchstabenzeitung und einem Herrn Kaenzig, der inzwischen für den VfL Bochum arbeitet. Zumindest von der Seite dürfte in nächster Zeit wohl keine Abwerbung zu befürchten sein. Meine Vorurteile über Bördivogts wurden zwar des Öfteren bestätigt, doch selbst ein Bördivogts ist kein schlechter Mensch und hilfsbereit in wirklich wichtigen Dingen und so etwas vergisst Ewald halt auch nicht.


Ein echtes Highlight ist seine äußerst kurios verlaufene Trainerkarriere in Griechenland und Rumänien, zumindest den Vereinen der ersten griechischen Liga hätte ich halbwegs professionelle Arbeit zugetraut, ein Wunder ist für mich eigentlich nur, dass Ewald es trotzdem bei gleich drei Vereinen versucht hat. Das Wetter ist da unten allerdings auch echt nicht zu verachten.

Für Fans des magischen FC ist das letzte Kapitel ganz sicher am interessantesten. Wer immer schon mal wissen wollte, wieso nach der grandiosen Rückrunde nicht mit dem Team Ewald und Olaf Janßen auf der Bank weitergemacht wurde, erfährt hier wenigstens seine Sicht der Dinge. Was mir auch nach der Lektüre immer noch nicht ganz klar wurde ist sein momentanes Betätigungsfeld im Verein, es scheint ein wenig, als könnte er machen wozu er gerade Lust hat. Gönn ich ihm.

Fazit: Ewald Lienen Trainergott! Zumindest Trainergott der Herzen. Irgendwann lass ich mir das Ding signieren, inzwischen sieht er das mit den Autogrammen ja nicht mehr so eng.

Foto dazu: Ewald Lienen - Ich war schon immer ein Rebell, Piper Verlag
Musik dazu: Zachary Richard - Coeur Fidèle / Last Kiss

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