Samstag, 10. November 2012

Lat: 53.7 Lon: 9.11667














Zwei Jahre war ich nicht mehr an einem prägenden Ort meiner Kindheit, dem Ort, den Thees Uhlmann auf seiner Platte so kryptisch mit Längen- und Breitengrad umschrieben hat. Irgendwo im Nirgendwo zwischen Hamburg und Cuxhaven, plattes Land, auf dem noch echte norddeutsche Namen wie Hinrich und Meta die Grabsteine zieren und der wichtigste Mann neben dem Bürgermeister der Kreisbrandmeister der freiwilligen Feuerwehr ist.
Heute war mal wieder ein Besuch angesagt. Leider ohne die Zeit ein paar mehr Orte der Kindheit aufzusuchen, um mal zu sehen was sich verändert hat. Was aus den alten Bunkern geworden ist, die man nach dem Ende des Krieges mit Müll zugeschüttet hat.
Ein unerschöpflicher Abenteuerspielplatz, auf dem wir mit Luftgewehren (und wenn Onkel Herbie nicht aufgepasst hat auch mit Kleinkaliber) auf riesige und extrem gefährliche Ratten schießen wollten, die wir allerdings nie zu Gesicht bekamen. Dafür suchten wir in den angrenzenden Bewässerungsgräben der Felder nach noch riesigeren und noch gefährlicheren Bisamratten, für die es angeblich sogar eine Schwanzprämie geben sollte. Konnten wir nie verifizieren, wir haben glücklicherweise auch nie eine Bisamratte gesehen.  Dafür konnte man wunderbar üben, indem man so lange die Kolben vom Schilfrohr geschossen hat, bis die mitgenommene Munition verballert war. Das ging auch mit Luftgewehren.
Oder wir haben mit primitiven selbst gebastelten Angeln die Gräben leergefischt. Aus der alten Badewanne im Garten wurde so ein Aquarium, etwas eintönig zwar, weil außer Barschen und Stichlingen nichts zu holen war, aber eigene Fische im Garten sind was tolles. Kein Schwein kam auf die Idee uns zu sagen, dass Fische in Badewannen nicht sehr lange überleben. Überhaupt hat uns niemand gesagt was wir zu tun haben, niemand hat sich Sorgen gemacht wenn wir einen halben Tag völlig von der Bildfläche verschwanden, niemand hat gewusst wo wir waren, heute in der Stadt völlig undenkbar. 
Einmal haben wir sogar einen richtig dicken Fang gemacht, einen Aal, den wir in stundenlangem Kampf versucht haben im Eimer nach Hause zu tragen, was bei Aalen nicht so einfach ist wenn der Eimer keinen Deckel hat. Den Ringelnattern, die sich in an sonnigen Plätzen wärmten, sind wir mit etwas mehr Respekt begegnet. Ungefährlicher waren die Millionen Grashüpfer auf dem großen Feld vor dem Haus, wenn es länger nicht gemäht wurde.
Vor und hinter dem Haus ein unerschöpflicher Vorrat an Vitaminen, Johannisbeeren, Brombeeren, Kirschen, Rhabarber, Birnen und Stachelbeeren, irgend etwas war immer gerade reif. Meistens Stachelbeeren, ich glaub beinahe das ist eine ganzjährige Frucht. Die Erbsen kamen nicht aus der Dose, die wurden auf der Veranda gepult und verschwanden nebenbei in unsern Mündern.

Ich erinner mich an ein Jahr, in dem Erbsen bei uns groß in Mode kamen. Die erste Erbsenpistole meines Lebens erstand ich beim jährlichen Schützenfest, dass außer einem Kettenkarussell recht wenig Attraktionen zu bieten hatte, aber mit Erbsenpistolen konnten wir uns prima die Zeit vertreiben. Nachdem wir die teure silberne Erbsenmunition von der Rummelbude durch ein Kilo vom Kaufmann ersetzt hatten war nichts und niemand vor uns sicher. Mich würde heute noch interessieren welchen Effekt etwa 100 grüne Erbsen auf das Spiel des Tubisten beim Abendtäterä gehabt haben. Es hat niemanden interessiert was wir im Saal der Dorfkneipe gemacht haben, und die große Öffnung einer Tuba ist ein ideales Ziel.

Das Paradies hatte ein paar kleine unbedeutende Schönheitsfehler wie Plumpsklos mit schrecklichen Jauchegruben, Herde auf denen man nur kochen konnte wenn die Kohlen glühten oder fließend eiskaltes Wasser, aber letzteres änderte sich zum Glück auch in heißen Sommern nicht, was die Brausepulverbrause deutlich aufwertete.

Die Dorfkneipe ist heute ein Baumarkt, die Grube von Portland Zement, dem ehemals größten Arbeitgeber im Ort, Freizeitsee und ein bei Tauchern in aller Welt beliebtes Revier. So beliebt, dass jedes Jahr mindestens einer unten bleibt. Die alten Schlachter, Bäcker und Gemischtwarenhändler haben längst ihre Geschäfte geschlossen, meistens aus Altersgründen. Auch auf dem platten Land regieren die Ketten, da wird es schwer Nachfolger zu finden.

Ich fürchte sehr viele Fahrten in diese Richtung werde ich nicht mehr unternehmen, man sollte es ausnutzen, solange die lebende Verwandtschaft zahlreicher ist als die auf dem Friedhof. Inzwischen hält es sich schon die Waage.

Hemmoormusik: Thees Uhlmann


6 Kommentare:

  1. das hört sich nach einer unbeschwerten kindheit auf dem lande an, dabei dachte ich immer du wärst hamburger. warst du auf einer beerdigung? klingt irgendwie so nach abschied.

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    1. Selbstverständlich bin ich Hamburger, Abenteuer auf dem Land gab es nur in der Ferien und an Wochenenden. Und nein, die Beerdigung war schon im letzten Jahr, da war ich aber gerade im Urlaub. Abschied war es trotzdem ein wenig.

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  2. Für mich liest sich dein Text von einem Hauch Schwermut durchzogen. Interessant auch der erste Nebensatz im letzten Satz; dieser Wechsel von der 1. Person Singular ins unpersönliche Pronomen "man" - sieht so aus als solltest du die letzten Gelegenheiten nutzen, um mit den Verbliebenen zu sprechen und dir alles noch Vorhandene genau anzuschauen (fotografieren?). Das gibt ein gutes Polster gegen die mit Sicherheit kommenden Unbilden des Alters...

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    1. Das mag stimmen, ein wenig schwermütig war ich schon. Irgendwann werde ich mal alleine da hinfahren um mich genauer umzusehen.

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    2. Kann ich aus eigener Erfahrung nur empfehlen. Mich habense in den letzten Jahren schon ein bisschen aufgezogen mit meinem "Lokalpatriotismus" zu meinem Herkunftskaff. Bei den beiden diesjährigen Aufenthalten hat sich da ganz von selbst etwas verändert. Gefühle der Fremdheit vielleicht, ich kanns (noch) nicht so genau sagen; fast wars schon sowas wie ein Anflug von Unbeschwertheit, da nicht leben zu müssen. Irgendwas muss da abgestorben sein. Ich hoffe, dass ich das zum Jahresende vernünftig formulieren kann.

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  3. Wunderbar geschrieben. Ich konnte die Schwermut auch fühlen und überhaupt habe ich sofort an "mein" Dorf gedacht.

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