Vorspiel
Um der eventuellen Vergesslichkeit der Kollegen vorzubeugen sehe ich mich gezwungen, einen meiner
letzten zwei Urlaubstage zu opfern. Davon ganz ab wird das heute
derbe anstrengend werden mit der Singerei, da wir mit den Dortmundern
fußballerisch nicht mithalten können müssen wir sie eben mit
Lautstärke beeindrucken. Schon ganz gut wenn man an solchen Tagen
ausschlafen und sein Bier zu verträglichen Zeiten trinken kann.
Die späte Anstoßzeit lässt außerdem
viel Spielraum für notwendige Besorgungen, etwas feste Nahrung vom
Imbiss erspart Zeit für die Stadionwurst und ich kann frühzeitig
los. Der Geldautomat spuckt wieder nur einen Fuffi aus, warum kann
man sich die Scheine nicht aussuchen an dem blöden Ding? Kleingeld
reicht eben noch für den Fahrschein, muss ich entweder das Bier oder
den Übersteiger mit dem Lappen zahlen. Stammplatz sichern oder
Meckerecke? Werde ich spontan entscheiden, oben ist die
Bierversorgung besser, unten hat man zur Not eine Schulter zum
anlehnen wenn es ganz schlimm kommt.
Das Wetter ist bombastisch, wenn das
„bedeckt“ ist, dann kann es gerne am Wochenende auch „bedeckt“
sein, sehr viele Wolkenfetzen sind am Himmel nicht zu sehen. Die
Chancen auf Schnee und hartgefrorenen Boden waren ohnehin nicht sehr
realistisch und Borussia hat genau wie Bayern das B an der falschen
Stelle, alles keine Anzeichen für eine neue Bokalsaison. Trotzdem
bin ich weit entspannter als bei einem normalen Ligaspiel, das Dasein
als krasser Außenseiter macht es möglich, reine Vorfreude über ein
Bonusspiel unter Flutlicht und dann einfach mal gucken...
An der Bushaltestelle grinsen sich zwei
Jugendliche zu als sie mich sehen. Vorstadtclubfans, der eine
prophezeit mir ein zweistelliges Ergebnis. „Nee“ sag ich,
„zweistellig ist erst morgen angesagt.“ Die Aussicht auf das
Spiel gegen Bayern lässt sie schnell verstummen, das Rautenleben ist
nicht einfacher geworden.
19 Uhr U-Bahn Sankt Pauli, dunkel dräut
die Winterzeit. Vom Wetter nichts mehr zu sehen, ist vielleicht doch etwas kühl für ein T-Shirt, aber ich wollte mich heute eh warmsingen. Trotz der vom Verein angekündigten Kartensperre für etwa
100 auf dem Schwarzmarkt verkaufte Karten treiben sich die üblichen
Händler da herum, ich sehe bloß nie jemanden Karten kaufen und
frage mich jedes mal ob sich der Aufwand für die Typen noch lohnt.
Einen Übersteigerverkäufer suche ich allerdings vergeblich, dafür
laufen mir am Stadion gleich drei über den Weg. Lesestoff für die
erste halbe Stunde, ein Bier dazu und Platz suchen.
Lesen wird dann doch nix, die Ränge sind heute weit eher gefüllt. Die Vorfreude macht sich gleich bemerkbar, eine Stunde vor Anpfiff wird schon kräftig gesungen. Ich singe kräftig mit, wodurch mein Bier allerdings schnell zur Neige geht und Nachschub ist noch nicht in Sicht. Noch keine Sitzer auf den Sitzen, dafür auf jedem Platz eine Tüte mit bunten Kassenrollen, gebrauchsfertig vorbereitet, mit schriftlicher Anleitung, damit auch nix schief geht. Für die Stehränge wurden massig Fahnen genäht und verteilt, da hat sich der Supportblock richtig ins Zeug gelegt heute, von der Haupttribüne könnte man das gut fotografieren, von hier oben eher nicht, aber vielleicht gibt es im Süden ja noch was zu sehen. (Gegengeraden- und andere Fotos bei Gröni)
ARD Experte Scholl muss sein Gespräch mit Moderator Bommes für mehrere Minuten unterbrechen, die Wechselgesänge zwischen Südkurve und Gegengerade lassen nichts mehr zu. Mehmet findet die Sprechchöre amüsant, er grinst übers ganze Gesicht. Auch Jürgen Klopp kommt auf den Platz und scheint die Atmosphäre aufzusaugen, so früh schon so viel Lärm kennt man in Dortmund höchstens aus einer Kurve. Die Atmosphäre macht mich tatsächlich ein wenig euphorisch, die Hütte ist bereit für den BVB, wir werden den Laden rocken bis die Stimme versagt. Könnte eine magische Nacht werden, mal sehen was die Jungs aus der Steilvorlage machen.
Zur merkwürdigen Hymne der Dortmunder ist die Hütte voll. Das Sternchengeleuchte hört sich ein wenig nach Weihnachtsschlagergesang an und wird von Gegengerade und Süd glücklicherweise niedergebrüllt bevor jemand einen Hörsturz erleiden kann. Die Aufstellung der Dortmunder kommt rüber, ohne Aubameyang und Gündogan, Langerak für Weidenfeller, wird aber nichts mit mangelndem Respekt von Klopp zu tun haben, da sind noch genug hochkarätige Namen auf dem Platz. Bei uns ist Ziereis für Thy drin, Kringe darf für wahrscheinlich 70 Minuten spielen und Verhoek soll für Budimir in die Spitze. Kein Schachten, nicht einmal auf der Bank, aber Schnecke ist wieder im Kader.
Im Block ist es inzwischen eng geworden, hinter mir stapeln sich die Leute und was ich von den Gesprächen so mitkriege sind viele das erste mal hier. Die Hütte ist schon lange ausverkauft, wie kommen die an Karten? Doch alles vom Schwarzmarkt? Fünf Minuten vor dem Anpfiff kommen und dann rumnölen weil man nicht gucken kann, nervt mich heute nur kurz, denn ich bin beschäftigt. Zuerst mit dem Herz von Sankt Pauli, dann mit der Knipse. Überraschend, weil vorher überhaupt nichts zu sehen war, zieht die Süd eine riesige Blockfahne hoch. Zeitgleich werfen die GG-Sitzer zu den Hells Bells ihre Kassenrollen auf die fahnenwedelnden GG-Steher und die alte Nordkurve feiert ihr letztes Spiel ebenfalls mit einer Choreo. Fahnen und Tapeten wohin man nur sieht, das ist heute ganz großes Kino, bunt und laut, so unglaublich laut wie schon lange nicht mehr. Welcome to the Hell of St.Pauli.
Spiel (1)
Es gab Zeiten, da hat das den Gegner beeindruckt. Oder die eigene Mannschaft so beflügelt, dass die daraufhin den Gegner beeindrucken konnte. Die Dortmunder juckt das wenig, sie zeigen von Anfang an wer hier eine Liga höher spielt. Kagawa, Reus und Immobile dürfen sich die Bälle nach Herzenslust zuspielen und unsere Jungs stehen staunend daneben. Ist das noch Respekt vor dem Champignonsleagueteilnehmer oder die nackte Angst vorm Versagen? Wenn sich mal eine Kontermöglichkeit ergibt wird die Pille blind nach vorne gedroschen, bloß weg mit dem Ding. So schnell wie der Ball weg ist kommt er natürlich auch wieder. Nach 15 Minuten müsste es schon 1:0 stehen, doch Tschauner reagiert großartig gegen Hummels Schuss und lenkt den Ball zur Ecke. Durch die dauernde Anfeuerung der Mannschaft hält sich das übliche Jammern und Wehklagen in Grenzen, es ist unglaublich wie das hier abgeht auf den Rängen, sieht man mal von den beiden Eventies hinter mir ab, denen die Beschäftigung mit ihren Smartphones wohl wichtiger ist.
Ein frisches Bier wäre nicht übel, meine Stimme fängt langsam an in ein heiseres Röcheln überzugehen. Das ist der Nachteil, wenn man schon eine Stunde vor dem Anpfiff anfängt mit dem Lärm. Das muss den Jungs da unten doch Mut machen, verdammt. Bis jetzt haben wir nur Glück, dass sich die Gelben als wenig treffsicher erweisen, die kriseln ja selber ein wenig. Kaum gedacht, schon klingelt es bei uns. Bevor ich vor lauter Entsetzen zusammensacken kann gibt es Entwarnung: Abseits. Puuh. "Kann trotzdem nicht mehr lange dauern" sagt mein Nachbar, "die stehen da wie das Kaninchen vor der Schlange." Leider hat er nicht unrecht damit, vor allem frage ich mich langsam, wie wir auf diese Art und Weise jemals ein Tor erzielen wollen. Lang wegbolzen und hoffen, dass John Verhoek das irgendwie verwerten kann? Klappt nicht, der kriegt den Ball, wenn überhaupt, dann auf jeden Fall nicht unter Kontrolle. Ist schwarz eigentlich eine Tarnfarbe, oder kommt es nur mir so vor, als hätten die Gelben vier bis fünf Mann mehr auf dem Platz?
Dreißig Minuten geht das gut, eine halbe Stunde, immerhin. Dann spielen sie Tikitaka im Strafraum, ehrfürchtig beobachtet, nicht eingegriffen, kein Bein dazwischen und kein Fuß davor: Immobile mit dem 0:1. Schockschwerenot, jetzt müssen wir schon zwei machen. Die Anfeuerungsrufe werden eher lauter, an der Unterstützung von den Rängen ändert sich rein gar nichts, es geht weiter als wäre nie etwas passiert, so muss das am Millerntor. Von hinten ertönt mein Name, der Dartmeister bringt Frischbier zur rechten Zeit. "Es wird leerer" glaubt der Eventie nachdem ich mich an den beiden nach hinten drängel. "Nee doch nicht" muss er sich korrigieren als ich zehn Sekunden später mit dem Bier wieder vorbei will. Was denken diese Leute sich? Dass hier jemand geht nur weil wir einen kassiert haben?
An unserem Spiel ändert sich wenig, immerhin trauen wir uns jetzt schon mal über die Mittellinie und wir kriegen einen Eckball. Ein Eckball! Hallelujah! Ein Tor, ein Tor, St.Pauli schießt ein Tor. Leider nicht, weil Langerak kein so ganz schlechter Torwart ist und den Kopfball von Gonther wegfischen kann. Gibt den Dortmundern eine Gelegenheit zum kontern, doch Nöthe rennt um sein Leben und verhindert das. Einsatz Baby, yeah, so muss das am Millerntor. Mehr davon!
Noch 5 Minuten für den Ausgleich, doch die gehören dem BVB. Tschauner wieder einmal super gegen Reus, eine Ecke nach der anderen für Dortmund und kurz vor Ende ist es dann Reus, der das 0:2 macht. Immobile rennt einmal durch bis zur Grundlinie, legt zurück und zack, drin isser. Scheißndreck verdammt und Halbzeit.
Zwischenspiel
Ein kurzer Klönschnack mit den Sitzern, wir sprühen ja alle nicht gerade vor Optimismus, aber der Wille zum Support ist ungebrochen, sogar den Dartmeister habe ich singen gehört zwischendurch. Ist auch besser wenn man nicht allzu viel nachdenkt heute, dann würde einem bewusst werden, dass das da unten mehr als eine Klasse Unterschied ist. Die eigentlich schreckliche Erkenntnis, außer der Tatsache, dass wir keine Chance haben gegen die Truppe. Das ist keine Bokalrunde, da kann man die Vergangenheit noch so beschwören. Die alte Regionalligamannschaft hat aus den Anfangserfolgen so viel Kraft und Selbstvertrauen geschöpft, die wollten sich einfach nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen, die sind jedes neue Spiel mit dem unbedingten Willen angegangen eine Runde weiter zu kommen - und wenn sie am Ende mit blutenden Füßen auf allen Vieren vom Rasen kriechen müssen. Die hätten Dortmund heute geschlagen, die hatten keine Angst, vor niemandem. Davon sind die Jungs da unten leider weit entfernt.
Der Klönschnack wird unterbrochen durch Gesang und Aktionismus, es werden Wunderkerzen verteilt. Subber Bürotechnik, leider muss ich meine Kerze verschenken, denn fotografieren und zündeln gleichzeitig funzt einfach nicht. Dafür bin ich jetzt vorbereitet und habe die Kamera griffbereit als die Gegengerade zu leuchten beginnt. Kurz darauf zünden sie auf der Südtribüne noch größere Wunderkerzen an, was nicht überall auf Gegenliebe stößt. Ein kurzer Check des hörbaren Umfeldes ergibt etwa fifty-fifty, denn die kriminelle Hälfte der Gegengerade unterstützt das Feuerwerk trotz der zu erwartenden Kosten mit lauten "Sankt Pauli Sankt Pauli" Rufen und ich muss gestehen, meine kriminelle Ader zwingt mich da mitzumachen. Sieht geil aus, auch wenn es etwas viel Qualm ist vielleicht. Muss mich auch sofort rechtfertigen, jablabla, kostet Geld, weiß ich auch. Aber Pokalspiel gegen Dortmund, kann man mal machen, ist ja nicht so dass die am laufenden Band irgendwo fackeln. Haben sie früher alle geil gefunden diese Atmosphäre, kann mir keiner erzählen dass nicht, aber seit das verboten ist und Onkel Beckmann im Fernsehen von Huuligäns redet geht das natürlich nicht mehr. Und das Geld! Man muss ja auch an das Geld denken, was das alles schon gekostet hat. Von der gesparten Kohle hätten wir jetzt trotzdem keinen Marco Reus im Kader. Wat'n Segen, dass das Spiel wieder anfängt.
Spiel (2)
Anpfiff im Nebel mit kurzer Verzögerung, Schnecke ist bei uns für Startsev drin. Der Junge war völlig überfordert, aber hey, bei den Gegenspielern? Der war gerade noch U23 und jetzt gegen die?
"Die" haben Probleme. Jetzt. Aaalter ich glaube es nicht, auf einmal Chancen, Langerak gegen Verhoeks Kopfball, kurz darauf ein abgefälschter Schuss knapp vorbei und Nöthe versucht es ebenfalls. John bleibt im Strafraum der Dortmunder liegen, zusammengerasselt mit Langerak, geht noch ein paar Minuten dann ist Schluss, Maier kommt für ihn. "Juhuuh" frohlocke ich, "jetzt fehlt nur noch ein Freistoß." Den kriegen wir tatsächlich, etwas weit weg vom Tor vielleicht, aaaaber... Maier traut sich nicht direkt und zirkelt den nur irgendwie Richtung Strafraum, wird nix. Mist verdammt. Uuund weitersingen. Oh Sankt Pauli, bist mein Verein, und du wirst es auch für immer bleiben. Ganz egal, was auch geschieht, wir werden immer bei dir sein. Die beiden Eventies hinter mir haben den ganzen Abend noch nicht die Klappe aufgemacht, aber in der zweiten Halbzeit schaffen sie es immerhin schon mitzuklatschen. Vielleicht wird das ja noch was, jeder hat mal angefangen.
Die Dortmunder bleiben natürlich immer brandgefährlich, und schnell sind die, Hölle sind die schnell. Ob Kagawa, Reus oder Immobile, die haben einen Antritt zum schwindelig werden. Nach den üblichen 70 Minuten darf Flo Kringe unter die Dusche, ich frag mich langsam ob der eine Klausel in seinem Vertrag hat oder wirklich nur Puste für 70 Minuten. Das Stadion singt und tobt immer noch, sogar ich kann heute konditionell mithalten. Wat mutt dat mutt.
Noch zehn Minuten, noch fünf, es wird eng. Die ersten Karten werden verteilt, an Kehl für ein Foul und an Gonther für Gemecker. Fünf Minuten vor Schluss. Jungs, ihr hättet die Karten schon in der ersten Hälfte kassieren müssen, fürs auf-die-Socken-steigen, nur so gewinnt man Pokalspiele. Mit Gift und Galle.
Den Rest gibt uns dann ausgerechnet Tschauner. Haut einen Rückpass direkt vor die Füße von Kagawa, der rennt noch ein paar Meter mit dem Ball und netzt ein, 0:3. Das war's dann. Naja, das war's eigentlich auch vorher schon, außer YNWA singen bleibt für uns nicht mehr viel zu tun. Und Tschauni mit Sprechchören wieder aufrichten, kann passieren so'n Mist, nu is auch egal. Ein paar letzte Versuche den Ehrentreffer zu erzielen bleiben vergeblich, wir sind zu harmlos gegen eine nicht wirklich überragende Dortmunder Mannschaft. Die Zutaten waren alle drin in der Suppe heute, letztlich war es aber nur beinahe eine magische Nacht.
Nachspiel
FCSPBVBDFB isgarnichsoschlimm. War doch erwartbar. Bonuspiel halt, geiler Abend trotz Niederlage, lasst uns nicht drüber sprechen, nur noch ein Bier trinken vor der Gegengerade. Ein paar Tresennasen sind noch da, der Rest muss früh raus und hat sich schon verabschiedet. Meine super Öffi-Äpp empfiehlt ebenfalls sich auf die Socken zu machen, sonst brauch ich nachher ein Taxi. Kurz in die Fanräume, zwei Karten besorgen für den Kessel Braun-Weißes, jetzt muss ich Herrn L. nur noch beibrinen dass er am 14.11. etwas vorhat. Bei der Besetzung mit Borger & Boll dürfte mir das nicht schwerfallen. Das wird ein Spaß, viel besser als jedes Fußballspiel. Vielleicht eine magische Nacht, wer weiß das schon
War garantiert eine magische Nacht: Bob Marley & The Wailers - Live at the Lyceum
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