Vorspiel
Am letzten Spieltag der Saison hat die DFL ein Einsehen und beschert uns normale Anstoßzeiten. Man kann ausschlafen und für eine Grundlage sorgen, heute trinke ich garantiert mehr Bier als gewöhnlich, bleibt bei solchen Anlässen nicht aus. Das letzte Spiel von Fabian Boll, eine Ära geht zu Ende, das Herz von St.Pauli verlässt den Platz. Vor diesem Tag fürchte ich mich schon seit Jahren.
Rechtzeitiges Erscheinen ist Pflicht, daher bin ich eine Stunde vor Anpfiff im Stadion, wo mich Herr L. überraschenderweise schon erwartet, mit einem Fischbrötchen und Cola. Unhaltbare Zustände, ich besorge anständige Getränke und nach einem kurzen Schnack mit den Sitznachbarn geht es auf die Plätze. Ich habe keinen Bock auch nur eine Minute zu verpassen heute, vor dem Anpfiff sollen noch Bartels, Schindler und Mohr verabschiedet werden. Wirklich traurige Verluste in diesem Jahr, aber keiner schmerzt so doll wie der von Boll.
Der darf durch ein Spalier schreiten um seine Kunstwerke in Empfang zu nehmen, bei denen ich mich immer frage, wer sich die am Ende wirklich an die heimische Wand hängt. Das wirklich große Geschenk bekommt er von der Südkurve beim Einlauf der Mannschaften und von den vielen Fans, die irgendwelche Schilder, Pappen und Tapeten gebastelt haben. Heute ist der Tag der #17, im ganzen Stadion.
Spiel (1)
Da ist Zug drin, wir kommen schnell vor das Auer Tor und kaum ist Boll am Ball wird es richtig laut im Stadion. Erste Ecke bringt nichts, erste Flanken kommen nicht an, aber nach einer Viertelstunde steckt Maier wunderschön auf Nöthe durch, der alleine auf Männel zuläuft und abschließt. War das Abseits? Hat er gezögert und auf den Pfiff gewartet? Fahne bleibt unten, Ball ist drin, 1:0 Woohoo Sahnetor. Heiter weiter, die nächsten Angriffe verlaufen nicht ganz so glücklich, Nöthe verstolpert, Bartels Hackentrick bleibt brotlose Kunst, aber wir sind im Vorwärtsgang, das ist schon mal gut.
Eine halbe Stunde sieht das recht zufriedenstellend aus, dann lässt sich Nehrig überlaufen, legt sich dabei hin, Kocer ist durch und Tschauner hat keine Chance, 1:1. Sone shice, verdammt. Wir schütteln das aber ab und sind weiter in Angriffslaune, ganz besonders engagiert ist natürlich Boller. Der zeigt den Jungs gleich mal wie man sich einen Ball vom Gegner holt, grätscht die Pille in Richtung Maier, der spielt raus auf Thy und der legt von der Grundlinie zurück auf Maier, drin ist das Ding, wie aus dem Schulbuch, 2:1 Woohoo, das macht mal Laune, da kommt sogar die Sonne zwischenzeitlich raus und Herr L. holt frisches Bier in ausreichender Menge.
Zwischenspiel
Großartig, was für ein schöner Tag. Halbzeitführung, kaltes Bier, Zeit für Fischbrötchen und Tapeten. Einige davon sind heute nicht wirklich passend, aber USP ist manchmal halt wie die Axt im Walde, daran habe ich mich gewöhnt. Ich mache ein paar Fotos, blätter ein wenig im aktuellen Übersteiger, dann geht´s weiter.
Spiel (2)
Ausgerechnet Boll kann nachlegen, fünf Minuten nach Wiederanpfiff haut er die Pille einfach mal in Richtung Knick, aber Männel ist gerade noch dran und kann den Ball zur Ecke lenken. Man, DAS wäre ein Fest gewesen. Zehn Minuten später ist es wieder Boll, diesmal im eigenen Strafraum, der die Pille humorlos aus der Gefahrenzone drischt. Endlich mal jemand der realisiert wohin das Ding ganz sicher nicht gehört und entsprechend reagiert, man, was hab ich das vermisst. "Die 17 ist Weltklasse" stoß ich Herrn L. an "mit dem hätte man rechtzeitig um 1910 Jahre verlängern müssen, da hat die sportliche Führung völlig versagt."
Leider kann er den Ausgleich nicht verhindern. Auch der läuft wie in einem Lehrfilm ab, wieder über links, die Abwehr pennt, der Ball wird von der Grundlinie zurückgelegt und Sylvestr macht das 2:2. Fast eine Kopie von Maiers Führungstreffer, so doof. "Maaan Nehrig" pöbelt Herr L., "das ist Deine verkackte Seite, schon wieder."
Danach fängt das Spiel an zu verflachen, gefällt mir nicht, nachher laden wir die Erzgebirgler noch ein hier drei Punkte holen zu wollen. Die ersten Auswechslungen stehen an, Schindler und Mohr machen sich unter Beifall bereit für ihren letzten Einsatz am Millerntor. Bartels geht in seinem letzten Spiel für den magischen FC vom Acker und dann ist es soweit. Der Kapitän verlässt den Platz, mit stehenden Ovationen von den Rängen und YNWA verlässt Fabian Boll den heiligen Rasen, von jedem Mitspieler umarmt. Gott sei Dank gibt es keine Karte für Zeitspiel, der Schiedsrichter lässt sie gewähren.
Es ist nicht so, dass wir keine Chancen mehr haben. Oder Aue. Ein Sieg zum Abschluss wäre vielleicht auch mal wieder ganz nett. Aber eigentlich ist das in den letzten zehn Minuten allen egal, von den Rängen tönen nur noch Fabian Boll Fußballgott Sprechchöre, im Wechsel mit allen Tribünen und dann das ganze Stadion, in ohrenbetäubender Lautstärke. "Bevor wir uns noch einen einfangen soll er lieber abpfeifen" brüll ich Herrn L. ins Ohr und der Schiri macht das einzig richtige, es gibt keine Nachspielzeit. Nur noch Zeit für Wehmut, Zeit für Abschied, Zeit für Tränen, Zeit um einen einzigartigen Spieler zu feiern.
Nachspiel
Die Mannschaft bekommt neue Trikots, es ist nur noch die 17 auf dem Platz. Die echte Nummer 17 begibt sich derweil auf die Ehrenrunde und bekommt das alles auch sehr professionell hin.
Bis er vor der Südkurve steht. Bis auf einmal Thees Uhlmann mit seiner Gitarre im Mittelkreis steht und die Hymne aller Hymnen anstimmt, Bollers Herzenwunsch zum Abschied. Bis Frau und Kind auf dem Rasen stehen und von allen Rängen der Refrain widerhallt.
Würde es geh´n würde ich Dich umarmen, das hier ist Fußball, das hier sind Dramen. Boller heult und das halbe Stadion, da bin ich mir ziemlich sicher, heult hemmungslos mit. Genau sehen kann ich das nicht, denn mein Blick ist merkwürdig verschleiert, ich muss mich völlig auf den Autofokus meiner Kamera verlassen. Auch bei den Nachbarn befinden sich verdächtig viele Hände in Augenhöhe. Der Kapitän wird mit Sprechchören und Liedern gefeiert, es will kein Ende nehmen, sogar mit extrem teuren Leuchtkörpern wird heute nicht gespart und ja, ich find das schön, zu so einem Anlass finde ich das einfach mal schön, scheiß was auf den DFB. Legenden haben sich das verdient.
Und so typisch sein erster Satz ins Mikrofon.
Leude, beruhigt euch mal. Ein echter Boll, als wenn das so einfach wäre. Was werde ich diesen Mann vermissen, als Spieler und als Mensch wird der eine gewaltige Lücke hinterlassen. Kein trockener Bollerhumor mehr in der Flimmerkiste, kein Wachrütteln der Truppe in engen Spielen, niemand mehr an den man seine letzte Hoffnung hängen kann in schlimmen Zeiten, mögen wir von ihnen verschont bleiben.
Irgend jemand aus dem Spielerkreis schubst den schüchternen Fin Bartels dann in Richtung Gegengerade, damit auch der sich zum Ende seiner Karriere beim magischen FC den verdienten Beifall abholt, ebenso Kevin Schindler und Florian Mohr, die noch die Welle machen, während Schachters Nachwuchs unter lauten Anfeuerungsrufen der Kurve die auf dem Platz liegenden Wasserbälle bearbeitet und Boller seine kleine Tochter auf den Armen schunkelt. Es ist weit nach Abpfiff und niemand will gehen auf dieser Familienfeier, sogar der Gästeblock aus dem Erzgebirge ist noch fast vollständig anwesend und feiert mit. Fabian Boll Fußballgott. Ich hatte das Glück ihn in allen Ligen anfeuern zu dürfen.
Nachspiel (2)
Schnell die Pfandbecher gevivaconaquad, zwei neue Biere gegriffen und raus. Es geht das Gerücht, die Spieler würden sich noch auf dem Südkurvenvorplatz und in den Fanräumen blicken lassen. Wir stehen fünf Minuten dusselig in der Gegend rum und werden dann von Herrn B. gefunden, der uns zur Tresenkurvenecke lotst. Spieler sind so früh nicht zu entdecken, aber eine der Mädels hat Aufkleber. Fabian Boll Aufkleber. Aaaaah, muss ich haben, sofort. Also nach dem nächsten Bier.
Koschi ist völlig begeistert von Bollers Abschiedsworten. "Wir sollen alle zwei Wochen ein Feuerwerk abbrennen hatter gesacht. Damit haben wir jetzt eine polizeiliche Genehmigung für Pyro, oder?"
Vor den Fanräumen steht ein Stickerverkäufer mit Bauchladen, der hat die Bolleraufkleber zwar nicht, aber von seiner Kollektion sacke ich erst mal einen Querschnitt ein. Die Bolleraufkleber soll es drinnen von der Tresenmannschaft geben, aber wahrscheinlich sind die ausverkauft.
Ich kämpfe mich durch und finde tatsächlich die Urheber dieser Kreation. Die haben noch weit mehr im Programm, unter anderem einen Schachten-Sticker der latürnich ebenfalls genommen wird und wenn man schon mal da ist: komplette Kollektion. Brauch ich alles. Sticker kann man bekanntlich nie genug haben.
Wieder draußen finde ich Koschi zehn Meter weiter mit einem Erzgebirge Aue Schal. "Ey Du Hooligan" ruf ich "haste etwa ´n Schal abgezogen?" aber er hat nur getauscht, mit einem der zahlreichen Auefans die mit uns vor der Gegengerade den Saisonabschluss feiern. Wismuuuuuuut, fand ich schon immer gut, sehr sympathische Leute. "Wieso haben die eigentlich keine Faschos?" frag ich Koschi und Herrn B. "ist ja eigentlich ungewöhnlich für nen Ostverein." Die Antwort kennt keiner so genau, ist nur froh dass es so etwas noch gibt und wir feiern das spontan mit lauten "Hey Hey, Sachsenmeister, Sachsenmeister" Rufen. "Aber nur ein paar Kilometer weiter ist es wieder ganz schlimm," sagt Koschi. "In Schämnitz. Mussu in deiner Kolumne schreiben, Schämnitz is schlimm."
Schlimm ist ebenfalls die Bierversorgung, irgendwer hat Hulsten Ekel Hülsen angeschleppt und das Zeug krieg ich nicht runter. Glücklicherweise läuft uns ein Bierfassträger über den Weg und ich kann gegen ein letztes Astra tauschen.
Und schlimm ist es auch wenn man hier mit einem Erzgebirgeschal herumsteht, alle paar Minuten haut jemand Koschi an, ob er nicht den Schal tauschen möchte und immer muss er erklären, dass er eigentlich Sankt Pauli Fan ist und den selber eingetauscht hat. Es ist nur nicht warm genug heute, so dass er sein neues Tresenkurven T-Shirt unter dem Hoodie tragen muss, so wird man natürlich nicht erkannt. Macht man sicher besser auch, wenn man mal nach Schämnitz kommt.
Gänsehauttag. Unvergessen, auf ewig.
Gänsehauttagesausklang:
Thees Uhlmann - Live Große Freiheit 36
(Bilder großklicken macht noch mehr Gänsehaut)