Vorspiel
Ich hab keinen Bock. Aus vielerlei Gründen, erstens kann ich das ganze Wochenende nicht ausschlafen, zweitens bin ich noch kaputt von der letzten Nacht und den sechs Stunden Stehplatz auf diversen Konzerten, und drittens wird das heute ein stimmungsmäßiger Tiefpunkt in der Saison, weil viele Fans nicht im Stadion sind. Der Support wird gewaltig leiden, davon bin ich jedenfalls ziemlich überzeugt, aber ein Boykott des Spiels kommt für mich, trotz des ernsten Themas, nicht in Frage. Ich reiß mir nicht jedesmal den Arsch auf für die Karte und bleibe dann draußen, auf die Straße gehen kann ich immer noch, wenn man mir ein Auswärtsspiel verweigert, weil ich möglicherweise ein gefährlicher Krimineller sein könnte. Bis dahin geh ich ins Stadion und unterstütze die Mannschaft.
An einer Demo für Fanrechte nach dem Spiel könnte man teilnehmen, aber dieses Gemisch aus Rostockern auf der einen und Sankt Paulianern auf der anderen Seite, dazwischen ein paar hundert Spartaner in Rüstung und möglicherweise neugierige Gefahrensucher mit Sinn fürs letzte Großstadtabenteuer, nee, ich hab keinen Bock. Jedes mal der gleiche Scheiß, wenn Rostock kommt ist die Vorfreude auf Fußball wie weggeblasen.
Trotzdem befolge ich den
anonymen Rat vom letzten Heimspiel und besorge mir eine Packung Matjes für das Frühstücksorakel. Die vier Filets reichen gerade mal für drei halbe Brötchen und kommen dazu noch aus Glückstadt, hier gibt es keinen Rostocker Fisch. Also ein eher schwaches Orakel, ein weiterer Hinweis auf einen zu erwartenden echten Scheißtag.
Herrn L. treffe ich in der U-Bahn, im Stadion gibts endlich Bier. Der Fisch muss schwimmen und vielleicht kann ich mir den Tag ja schön saufen. Herr L. kann das nicht, der muss nach dem Spiel in die Firma und tatsächlich noch arbeiten. Im Stadion dann die überraschende Feststellung, dass die Südtribüne trotz Boykotts recht dicht gefüllt ist. Auffällig nur die fehlenden Banner von Ultra Sankt Pauli, dafür gibt es auf allen Tribünen sehr viele andere, dem Tagesthema geschuldete, Tapeten zu sehen - und eine handvoll Rostocker, die es trotz Verbots in den Gästeblock geschafft haben. Hells Bells, Konfetti, Aux Armes, alles (fast) wie immer, aber keine Choreo auf der Süd, keine Herzfahnen auf der Nord, da fehlt etwas. Mir jedenfalls.
Spiel (1)
Trotzdem funktionieren Wechselgesänge, der Support ist besser als erwartet, lauter als erwartet, sogar in den letzten Reihen unterm Dach. Das kann durchaus am Spiel liegen, denn das wirkt alles sehr gefällig, die Jungs gehen giftig in die Zweikämpfe, fordern den Ball und setzen Rostock gehörig unter Druck, ganz besonders Naki scheint wieder schwer motiviert zu sein gegen seinen Lieblingsgegner. Ich hab mich gerade richtig in Stimmung gebracht, da stehts auf einmal 1:0, Kruse tankt sich durch und flankt in den Strafraum, ich seh den Ball vor meinem geistige Auge schon ins Aus fliegen, aber Ebbers grätscht hoch rein und erwischt die Kugel noch mit dem Fuß. Wooohooo was für ein geiles Tor, jetzt hätt ich gern ne Wiederholung, in Zeitlupe.
Endlich mal wieder eine frühe Führung, das scheint aber einschläfernde Wirkung zu haben, sowohl auf die Mannschaft als auch auf meine Umgebung, auf einmal sitzen wieder alle neben mir und Rostock kommt zu Chancen. Die Mannschaft scheint ein wenig den Faden zu verlieren und die sonst sichere Defensive gerät ab und zu ins Schwimmen. Unsere Akteure laufen derweil gerne ins Abseits, wobei ich mir bei einer Szene mit Naki nicht sicher bin, aber der Schiedsrichter pfeift und die Chance ist dahin.
Rostock muss mitspielen, wollen sie noch eine Chance haben, und das muss sich irgendwann rächen, da müssen Lücken entstehen. Die gibts dann auch, aber leider kriegen wir die Kugel nicht ins Gehäuse. Boll verpasst einmal ganz knapp eine Hereingabe, Bartels tanzt ein paar Rostocker aus, zieht nach innen und versucht es direkt, scheitert aber am Torwart. Das hätte ein Tor des Monats werden können.
Langsam könnte der Halbzeitpfiff ertönen, mir fällt jetzt erst auf warum ich die neue Digitaluhr auf der Anzeigetafel letztes mal nicht bemerkt habe, die kann man von hier aus schlicht nicht sehen. Ausgerechnet jetzt veranstaltet unsere Defensive wieder Unfug und es gibt Freistoß für Hans A.
Tschauner kann den nur wegfausten und sieht dabei nicht gut aus, der Nachschuss geht daneben, dann ist Pause.
Zwischenspiel
Ich renn runter und hol mir ein Bier, kurzer Abstecher für einen Klönschnack zum Block 2, auch hier ist man recht zufrieden, mit Spielverlauf und mit Support. USP wird nicht vermisst, endlich kein langweiliges Dauerlala, Wechselgesänge klappen auch wunderbar ohne Ultras und wenn man auswärts nicht randaliert wie die Rostocker, dann bekommt man auch weiterhin Karten, alles kein Problem für das man demonstrieren müsste, ausgestreckte rechte Arme von Rostocker Faschos will eh niemand im Stadion sehen. Ich hör mir die üblichen Sprüche an und denk mir meinen Teil, für solche Diskussionen braucht man mehr als 5 Minuten in der Halbzeitpause. Glücklicherweise sieht das heute nicht nach einer engen Kiste aus, wenn die so weiterspielen wird es nicht leiser werden auf den Rängen.
Ich hol eine frische Hopfenkaltschale für die zweite Hälfte und komm damit die Treppe nicht hoch, weil die durch einen mobilen Bierverkäufer und seine Kunden versperrt wird. Diesen Service gibt es immer dann wenn man ihn nicht braucht, auch so ein Mysterium in Fußballstadien.
Spiel (2)
Wir sind weiter engagiert dabei, kaum ist das Spiel angepfiffen rollen die ersten Aktionen in Richtung gegnerischer Strafraum, Naki wieder gut dabei, der passt nach ein paar Minuten wunderschön auf Marius Ebbers Fußballgott und der macht das 2:0. Woohoo, sollte das wirklich klappen mit dem fischigen Orakel, dann fallen hier noch zwei Treffer, das macht mal wieder richtig Spaß heute. Kogge versenken und mindestens ein Jahr Ruhe haben, ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zur Abwrackwerft.
Wir haben Hansa im Sack, unsere Offensive ist endlich mal wieder richtig auffällig, Naki, Ebbers, Bartels gefallen mir richtig gut, nur Kruse fällt dagegen etwas ab. Dank Sobiech auch wieder Lufthoheit im eigenen Strafraum, da brennt kaum noch was an. Nach ein paar Rostocker Kontern werden wir wieder agiler, ohne zählbaren Erfolg. Ebbe verstolpert einen Ball an der Seitenlinie und kassiert dafür aufmunternde "Marius Ebbers Fußballgott" Rufe. Kurz darauf versemmelt er gleich zwei dicke Chancen, aber nach seinen zwei Treffern nimmt ihm keiner noch etwas krumm.
Er machts dann wenig später besser, steckt einen Pass von Sobiech durch auf Fin Bartels und der macht das 3:0. Schwerer Treffer, direkt ins Heck der Kogge, ich hör sie schon blubbern.
Danach darf der Fußballgott sich erholen, für die letzten 10 Minuten kommt Slisko, und wir spielen die Partie locker zu Ende. Den vierten Treffer bekomme ich nicht mehr, denn scheinbar zählt bei einem Orakel die nur Anzahl der halben Fischbrötchen die ich esse, egal mit wie viel Matjesfilets sie belegt sind. Ist aber völlig egal wenn sie aus Glückstadt kommen.
Nachspiel
Nach dem Schlusspfiff bittet die Hamburger Polizei darum, den Ausgang Budapester Straße zu meiden, man möchte wohl unbedingt eine Verstärkung der dort demonstrierenden Fangruppen vermeiden. Die Durchsage kassiert ein gellendes Pfeifkonzert, eine glatte 6 auf der Beliebtheitsskala, nicht weiter verwunderlich.
Ich lauf runter zu den Stehern um ein paar Fotos von der feiernden Mannschaft zu machen, erwische Naki gerade wie er sich eine Fahne borgt um sich standesgemäß von der kleinen Rostocker Fangruppe zu verabschieden. Diese Motivationshilfe wird ihm nächste Saison fehlen. Herrn L. und Koschi treff ich am Versorger wieder, nach einem Bierchen geb ich den Gedanken an eine mögliche Straßenkampfreportage auf und beschließe mit Herrn L. zusammen den Heimweg anzutreten.
Das war höchstwahrscheinlich mein letztes Spiel auf der alten Gegengerade, ein überzeugendes Ergebnis, eine versenkte Kogge und endlich mal wieder ein paar alte Lieder, da muss ich hinterher nicht unbedingt nachsehen ob es Stress mit den Spartanern gibt. Ich bin zu alt für diesen Scheiß.
Das merkt man auch an meiner Musikwahl:
Frank Zappa - Over-Nite Sensation/Apostrophe (')
Nachtrag: Lesenswerter Bericht über das Geschehen vor der Haustür bei
Magischer FC