Vorspiel
Mein neues Motto für Montagsspiele: Wer keinen Stress hat, der macht sich welchen. Mehrmals dödelt das Handy und informiert mich über die Ankunftszeit von Mudder und Schwesterherz, die scheinbar damit rechnen vom Flughafen abgeholt zu werden. Der Flieger aus Edinburgh landet pünktlich um 16:15, mal kurz die Zeit berechnet und losgefahren, sollte locker reichen, nach Fuhlsbüttel brauch ich nur eine halbe Stunde.
Heute natürlich nicht, es ist unglaublich, ich komme keinen Meter vorwärts. Egal welche Schleichwege ich versuche, überall ist Stau. Durch die Verzögerung bei der Gepäckausgabe komme ich zwar pünktlich, aber der Rückweg ist ähnlich grausam, die Stadt leidet unter akuter Verstopfung. Als ich die beiden abgeliefert habe hetze ich schon wieder mit unzulässiger Geschwindigkeit zurück, an der Tanke ein kurzer Aufenthalt, eine Tüte Fisherman´s Friend besorgen. Beim Spiel gegen Bielefeld war ich völlig ausgetrocknet, das war mir eine Lehre. Wenn es schon kein richtiges Bier gibt, dann müssen Halspastillen helfen, und gegen Dünamo gibt es ganz sicher kein richtiges Bier.
Endlich zu Hause schaffe ich es gerade noch eine Sportzigarette für unterwegs zu basteln, die Klamotten in braun-weiß zu wechseln und den Bus zu verpassen. Irgendein Honk hat die Baustellenampel so eingestellt, dass der inzwischen wieder pünktlich fährt, man muss wirklich mit allem rechnen.
In Bus und Bahn treffe ich vielleicht noch ein knappes Dutzend Fans, untrügliches Indiz für akutes Scheißeichbinzuspätdransymptom, was für Schweißausbrüche, laufendes auf die Uhr gucken und zwanghaftes Kopfrechnen sorgt. Eine Viertelstunde vor Anpfiff ist am Eingang tote Hose, ich kann mir den Abklopfer aussuchen, doch dahinter staut es sich, weil die alten Kartenabreißer einfach effektiver gearbeitet haben als dieses dämliche elektronische Einlasssystem. Ich hetzte die Treppen hoch und renne beinahe einen Mann mit Bierfass um. Einen von drei Bierfassmännern. Hier? Heute? Bierfassmänner? Gegen Dünamo?
"Ist da etwa Vollbier drin?" frag ich ihn. "Ja sicher" erwidert er. Habe ich so ein schlechtes Gedächtnis? Gab es gegen die Spacken schon mal Vollbier? "So sicher fand ich das jetzt nicht" sag ich, "dass es gegen Dresden Alkohol gibt." Er grinst mich an. "Die Dresdner kriegen auch keinen."
Meine Fresse, das verschlägt mir glatt die Sprache. Ich hab mich ja schon immer gefragt, wieso wir kein Bier kriegen, wenn die Gäste sich nicht benehmen können. Hat da tatsächlich mal jemand drüber nachgedacht bei der Behörde für Stadionbierverbote? Ein frisches Pils in der Hand bin ich fünf Minuten vor Anpfiff auf dem Platz, muss den Becher aber sofort Herrn L. in die Hand drücken, um den Stinkefinger auf der Südtribüne zu fotografieren, ins Fernsehen kommen die damit nicht.
Die Gegengerade singt sich derweil warm, ganz schön laut heute Abend. "Was'n hier los?" frag ich Herrn L. "Es gibt Bier" ist die lakonische Antwort. Stimmt, hätte ich selber drauf kommen können. Mein Bier hat jedenfalls deutlich abgenommen, als ich es wieder in Empfang nehmen kann, wieso hat der sich nicht selber eins geholt? Kamera wegpacken, Stimme ölen, es geht los.
Spiel (1)
Wer zu spät kommt muss erst mal sortieren. Wer steht eigentlich auf dem Platz? Boller wieder dabei, schön. Buchti, Fin, Ratsche und Verhoek wieder in der Startelf, die Abwehrkette wie gehabt, alles gut. Wir gleich im Vorwärtsgang, der Ball segelt im Dresdner Strafraum herum, auf einmal brüllen alle Hand! Elfmeter! nur ich sehe nix, weil Bartels direkt davor steht. Könnte aber Hand gewesen sein, nen Elfer gibt es trotzdem nicht.
"Das 1:0 fällt in der sechsten Minute" sagt mein Nachbar. Naja, hoffentlich auf der richtigen Seite. Erster Eckball für Dresden, nicht so gut. Kurz darauf wird Ratsche gelegt, Freistoß für uns, die Stadionuhr zeigt fünfdreißig. "Das könnte was werden mit dem 1:0 in der sechsten Minute" sag ich, und der Nachbar strahlt. Leider taugen seine Visionen nichts, die sechste Minute vergeht ohne Treffer. Die zehnte Minute auch und alle anderen Minuten, in denen Gonther, Verhoek, Thy und andere versuchen, die Pille irgendwo im Kasten zu versenken. Wir sind deutlich am Drücker, Dresden kommt selten vor unser Tor, aber es fehlt das Glück, die nötigen letzten Zentimeter, es fehlt das Tor, das dem Spiel unserer Jungs die nötige Würze verleihen würde. Zwei bis drei etwas brenzlige Situationen für uns, weit mehr für die Dünamos, das sollte irgendwann für etwas Zählbares reichen. Dann geht Lenny Thy in den Strafraum und wird von nem Dresdner gelegt, den Handelfer hab ich nicht gesehen, den hier schon, doch wieder bleibt der Pfiff aus. Der Schiedsrichter leitet das Spiel bis dahin eher unauffällig, aber das geht mir auf den Sack jetzt. "Welcher Blödmann ist das?" frag ich Herrn L., aber der war nur drei Minuten vor mir im Stadion und weiß ähnlich viel. Wir sind bis zum Pfiff weiter am Drücker, aber wenn etwas durchkommt in der richtigen Richtung, dann hat der Dresdner Keeper immer noch nen Finger dran, es ist zum aus der Haut fahren.
Zwischenspiel
Herr L. macht keinerlei Anstalten Bier zu holen, auf meinen auffordernden Blick gesteht er verschämt, kein Geld dabei zu haben. Am Wochenende hat er dafür in einem Wolfsburger 5 Sterne Hotel logiert und sein neues Auto abgeholt, kein Wunder wenn man da etwas klamm ist. Also mache ich mich auf für Getränke zu sorgen, was hier oben ziemlich schnell erledigt ist, sehr viele Halbzeittapeten dürfte ich nicht verpasst haben. Die Zeit vergeht im Fluge, sie spielen wieder Depeche Mode. Hoffentlich hat diese Mode bald ein Ende, ich will Cock Sparrer wiederhaben.
Spiel (2)
Kein Grund zu wechseln, die Mannschaft kommt unverändert aufs Feld und nur zwei Minuten später setzt Halstenberg einen Hammer an den Pfosten, so eine Scheiße, hätte der nicht mal sitzen können? Endlich mal ein Ball, an den der Torwart nicht rankommt, und dann fehlen wieder ein paar Zentimeter. Wir sind weiter drückend überlegen, aber Dresden gefährlich bei Kontern. Torre wieder sehr kompromisslos und energisch, ich liebe seine Spielweise, heute sogar ohne Karte. Zehn Minuten später der erste Wechsel, Boller geht für Kringe. Kann man machen, so doll läuft das heute nicht beim Käptn. Schachten ist auch ein halbes Jahr ausgefallen nachdem er Vater wurde, hoffentlich gehts bei Boll schneller vorbei mit dem Babygeschrei.
Inzwischen läuft Fin Bartels mit Kopfverband herum, keiner hat was gesehen, aber der Turban wird wohl einen Grund haben. Herr L. findet das super "Jetzt kann ich ihn viel besser erkennen."
Der Turban hindert Fin nicht weiter an seinem Spiel, er wuselt weiter mit Ratsche im Mittelfeld herum wie vorher, wir kommen weiter zu Chancen. Eine nach der anderen, Verhoek verpasst, kommt zu spät, setzt den Ball neben das Tor, ich krieg echt Pickel hier oben.
Dresden wechselt Ouali ein und der Name erzeugt sowohl bei mir als auch bei Herrn L. ein sehr unangenehmes Gefühl. Ou Ali. Wenn das man gut geht. Geht es nicht.
Der wird gleich gefährlich der Ouali, und der anschließende Eckball ist von hier aus wunderbar zu sehen. Fast wie in Zeitlupe sehe ich einen Dresdner im Strafraum hochsteigen. Einen mit Vollbart, mein Adlerblick erkennt jede Falte seines angestrengten Gesichtes, der bleibt in der Luft stehen, der will überhaupt nicht mehr runter, er ist der einzige Spieler im Strafraum der schweben kann und er trifft die Kugel voll. 0:1 Dresden.
Ich könnte kotzen. Was für ein Segen, dass man von hier aus den Dresdner Fanblock nicht sehen kann, wie sie feiern, als ihre Spieler auf den Block zustürmen. Kotzenkotzenkotzen. Schluck Bier nehmen. Brüllen. Forza verdammte Hacke, das darf alles nicht wahr sein. Die Luft brennt für knappe zwei Minuten, dann explodiert das Stadion, weil Kringe einen Freistoß von Buchti in den Winkel zirkelt. Woohoo 1:1 DAS war mal die richtige Antwort.
Jetzt brennt die Hütte richtig, noch knappe zwanzig Minuten zu spielen, Zeit für die zweite Luft. Auf dem Rasen ist weiter Hochspannung, Dresden wechselt erneut, Poté kommt. Noch so ein Name, der bei Herrn L. und mir Unbehagen auslöst. Doch es ist wieder Ouali der Probleme bereitet, Nehrig senst ihn um an der Strafraumgrenze, leider auf der falschen Seite der Linie. Scheiße ungerecht trotzdem wenn man zweimal keinen bekommt. Eigentlich könnte Tschauner auch mal einen Elfer für uns halten. Das denke ich zwar, trau mich aber nicht es auszusprechen. Vielleicht hätte er ihn dann nicht gehalten, so springt er in die richtige Ecke und lenkt das Ding um den Pfosten. Philipp Tschauner Fußballgott! Sogar die eher ruhige Nachbarschaft hier oben gerät langsam in Ekstase, endlich kann man mal stehen bleiben. Aufrecht kann man besser brüllen und wir brüllen die Jungs nach vorne in den letzten Minuten. Ratsche geht für Nöthe, vielleicht trifft der ja.
Noch drei Minuten auf der Uhr, da wird Buchtmann gelegt. Wieder eine gute Entfernung eigentlich, aber leider bleibt er ziemlich lange liegen. Der Turbanträger geht inzwischen vom Platz, Bartels raus, für ihn kommt Sebastian Maier. Herr L. stößt mich an und schreit: "Der macht ihn jetzt rein, das wird wieder so 'ne typische Sankt Pauli Geschichte." Irgendwie haben die Leute alle zu viel Visionen heute, muss am Montag liegen. Vielleicht ist ja auch Vollmond.
Tja, und der Rest ist halt wieder so eine typische Sankt Pauli Geschichte. Ein kurzer Blick, zwei drei Schritte zurück, Anlauf und rein das Ding. Sebastian Maier, 19 Jahre alt, macht das 2:1, macht den Siegtreffer und versetzt 28000 Menschen in einen Freudentaumel. Wieder mal ein Spiel, an das man sich noch Jahre erinnern wird, wieder mal ein Spiel, bei dem man weiß warum man zum Fußball geht. Und warum man genau in dieses Stadion geht. Wegen der Visionen.
Den Sitzplatz werde ich möglicherweise in der nächsten Saison trotzdem gegen Hardcorestehen eintauschen, denn auf der vom Verein übermittelten Warteliste für Dauerkarten stehe ich, juhuu, auf Platz 1 bis 200. Drückt mir die Daumen nächstes Jahr.
Nachspiel
Es macht Spaß die Jungs auf dem Platz feiern zu sehen, das ist eine feine Truppe, die werden uns noch viel Spaß machen. Die werden sicher auch noch das eine oder andere Gurkenspiel abliefern, aber für die Zukunft bin ich ganz optimistisch, das wächst sich zurecht. Herr L. mahnt zum Aufbruch und ist dann ganz verblüfft, dass ich trotz Vicky Leandros nicht aus dem Stadion flüchte. Das ist wohl die Altersmilde, nach solchen Spielen stört mich sogar Vicky L. nicht sonderlich. Trotzdem irgendwie enttäuschend, dass Boller da als Mannschaftskapitän nicht interveniert. Andererseits, besser Vicky als Eye of the Tiger oder Final Countdown, es geht immer schlimmer, wer weiß was sonst noch in der Mannschaft schlummert.
Noch ein Bier vor dem Stadion und ab nach Hause, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Auch Scheißmontage können manchmal Spaß machen.
Macht auch Spaß:
Social Distortion - Somewhere Between Heaven And Hell/Hard Times And Nursery Rhymes