Donnerstag, 9. August 2012

Gegengerade Sankt Pauli, 20359 Erinnerungen














Für Zahlen ist in meinem Speicher kein Platz, an Zahlen und Daten kann ich mich nur sehr schlecht erinnern, ich habe gerade die nötigsten drei Geburtstage im Kopf, die drei, die dafür sorgen dass ich den auch behalten kann.
Wann ich das erste mal in meinem Leben auf der Gegengerade am Millerntor stand weiß ich nicht, das muss 1975 oder 76 gewesen sein, noch vor dem ersten Aufstieg des magischen FC in die Bundesliga. Damals war der Verein noch kein "Kult", es wehte nicht eine einzige Totenkopfflagge im Stadion und Hells Bells wurde von AC/DC ein paar Jahre später erst aufgenommen. Wer ein Spiel sehen wollte kaufte sich eine Karte, das Wort "ausverkauft" war im Sprachschatz eines St.Pauli Fans nicht vorhanden. Das Erinnerungsstück an den Aufstieg ist ein Skatblatt mit Spielern und halbnackten Mädchen, das heute einen Sturm der Entrüstung hervorrufen würde. Für diese sexistische Idee würden Köpfe rollen. 
Die Gegengerade war ein Erdhügel mit Stufen, der sich bei Regen in eine einzige Matschfläche mit tiefen Pfützen verwandelte, im Winter zog der eiskalte Wind durch die letzte Ritze der Klamotten und im Sommer hat man geschwitzt wie in der Sauna. Anfangs gab es keine hinderlichen Zäune, so dass man je nach Lust und Laune auch mal hinter das gegnerische Tor laufen konnte, um den Torwart bei Elfmetern zu nerven. Oder den eigenen zu unterstützen. Genau betrachtet gab es früher schon Zeichen für meine spätere Berufung als Fußballwahrsager, als ich unserem damaligen Keeper "Rille" Rietzke einen gehaltenen Elfmeter prophezeite, was meine Kumpels alle für höchst schwachsinnig hielten, aber ich sollte recht behalten.

Wir feierten den Aufstieg in die Bundesliga, den ersten Derbysieg gegen den Lokalrivalen und ich feierte meine neuste Eroberung, eine junge Dame die ich auf den Stufen der Gegengerade das erste mal geküsst hatte, und die in der Zukunft dafür sorgen sollte, dass ich nicht mehr viele Spiele zu sehen bekam.
Familienplanung schlägt Fußball. Man kümmert sich um das Geld, um den Nachwuchs und den Haushalt am Wochenende, wenn die Frau im Krankenhaus Nachtschichten schiebt, und der Bekanntenkreis setzt sich aus Leuten zusammen, die man aus der Krabbelgruppe kennt.

Der FC St.Pauli ist trotzdem immer "mein" Verein geblieben, schon durch die sehr erfreulichen Veränderungen, die von der neuen linken Fanszene aus Hausbesetzern der Hafenstraße und sonstigen Punks initiiert wurden, Totenkopf? Fand ich geil. Antifaschistisch und antirassistisch? Klar doch, Nazis raus. Ich hatte zwar früher nie welche bemerkt, aber wenn welche da sein sollten, auf jeden Fall raus. Bei seltenen Gelegenheiten konnte ich mir das vor Ort ansehen und hab mich gleich wieder gefühlt wie zu Hause. Ende der 80er hat man der Gegengerade eine zusätzliche Tribüne spendiert, auf der man sogar trocken sitzen konnte, wenn der Regen nicht direkt von vorne kam. Eine kurzfristige Lösung nur, aus Eisenträgern und Holzbohlen, die dann mit jährlich erneuerten Ausnahmegenehmigungen über zwanzig Jahre die Heimat vieler Fans war. Darunter und davor.

Manchmal war ich auch dabei, mal mehr und mal weniger häufig, meistens wenn die Mannschaft gerade in der dritten Liga herumkrebste, weil man zu der Zeit keine Probleme hatte Karten zu bekommen. Bis mir vor einigen Jahren schlagartig klar wurde, dass ich heute wieder machen kann was ich will und wann ich es will. Niemand kann mich noch hindern ein Fußballspiel zu besuchen. Jedenfalls, wenn ich eine Karte kriege. Das erwies sich nämlich inzwischen als so gut wie unmöglich, es sei denn man wird Mitglied, also wurde ich Mitglied. Was die Sache zwar nicht unbedingt erleichterte, aber die Chancen erhöhte, so dass ich in den letzten Jahren nicht nur den Verein meines Herzens wieder lautstark unterstützen konnte, ich hab auch noch die alten Herren wiedergefunden, die mich damals das erste mal ans Millerntor geschleppt haben, als sie und ich noch keine alten Herren waren. Die haben schlauerweise ihre Prioritäten damals anders gesetzt als ich, und seit Urzeiten eine Dauerkarte.

Auf so ein Ding habe ich spekuliert, weil die alte Gegengerade jetzt ihr Leben lassen musste, zugunsten einer modernen Tribüne aus Beton, mit viel mehr Plätzen. Leider gab es mehr als 1500 Interessenten, was die Wartezeit wieder um ein paar Jahre nach hinten schieben wird, das Leben ist nu mal hart an der Küste.

Seit ich realisiert habe, dass der alte Bau nicht mehr lange stehen wird, an dem nicht nur bei mir viele Erinnerungen hängen werden, hab ich etwas Zeit (und Geld für eine neue Taschenknipse) investiert um möglichst jeden Wellenbrecher, jede Schraube, jeden Sitz und jeden verlassenen Bierbecher abzulichten und noch schnell eine der letzten Stadionführungen mitgemacht, bevor die Abrissbirne zuschlug.

32 dieser Aufnahmen hab ich herausgesucht, vor und nach den letzten Spielen, die ein klein wenig die Stimmung wiedergeben sollen, und die vielleicht die eine oder andere Erinnerung wachrufen, wenn man sich an das neue Betondingens zu sehr gewöhnt hat.

Leider ist das Ding noch nicht fertig, so dass meine Chancen auf einen Heimspielbesuch in zwei Tagen eher als gering einzuschätzen sind. Aber dieses Drama bin ich inzwischen gewöhnt.

Gegengeradenerinnerungsmusik: Slime - Alle gegen alle (und klicken macht Bilder groß)


































11 Kommentare:

  1. Wunderschön, vielen Dank dafür!

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  2. Schöne stimmungsvolle Fotos. Sie lassen erkennen, wie dein Herz für deinen magischen Club schlägt ;-)

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    1. Danke, bitte :)
      oder annersrum.

      Das Herz wird langsam nervöser, das Fieber steigt.

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  3. ich hab für fußball nie sonderlich viel übrig gehabt und mir wär das auch viel zu voll und zu eng in diesem gedränge, aber irgendwas muss ja dran sein, wenn ihr über jahrzehnte immer wieder dahin rennt. wenn das gedränge auf der neuen tribüne nicht mehr so schlimm ist kannste mich mal mitnehmen, damit ich das geheimnis ergründen kann :)

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    1. Das Geheimnis ergründen? Das kann man nicht, indem man hingeht um sich das mal anzusehen. Das Geheimnis erschließt sich nur dem, der mit seinem Verein mitfiebert und mitbangt bis zur letzten Minute, und bis zur letzten Minute bereit ist die Mannschaft nach vorne zu peitschen, der sich über Aufstiege freut und Abstiege betrauert.
      Wenn mir Fußball egal ist und der Verein egal ist, dann fehlen die Emotionen, die das Ganze zu etwas besonderem machen. Dann sollte man dem Stadion fernbleiben und Sky gucken, wie Dein kleiner Bruder z.B..

      Abgesehen davon hoffe ich weiterhin auf Gedränge, das war zwar eng, aber im Winter ganz angenehm.

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  4. Ja der gute alte FC, hat schon etwas einzigartiges in unserer Fussballrepublik. Steht bei mir zwar nur an der 2. Stelle, nichtsdestotrotz kann auch ich mich dem Mythos kaum entziehen und werde mir hoffentlich diese Saison auch ein Gastspiel hier im Westen anschaun.
    Schöne Bilder btw, die die Vorfreude auf Deine orakelbehaftete Berichterstattung nochmals steigern ;)

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    1. Schalke und Dortmund fallen ja flach diese Saison, ich muss direkt mal gucken was bei euch in der Nähe liegt. Köln haben die Arschlöcher natürlich auf einen Montag gelegt, bisher ist nur Jahn Regensburg auswärts fest im Programm bei mir.

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  5. Ach Mönsch. Da wird mir ganz schwer ums Herz. Dabei war ich ja nie dort (weil ich aber auch ausgerechnet zum 100. meinen gebuchten Platz im RSL-Bus wegen einer OP hergeben musste)
    Schöne Bilder. Wehmütige Bilder. Aber es wird auch mit Beton schön werden. Ganz sicher!

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    1. Hoffe ich auch, zur Not greifen wir selber zu Pinsel und Farbe.

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