Sonntag, 17. Januar 2016

Zwischen Melancholie und Hörsturz


















Zu den in Dauerschleife laufenden ersten Takten von First Regret flimmern minutenlang hässliche nackte Wohnsilos der schlimmeren Art über die Leinwand, als von der Band noch niemand auf der Bühne steht. Graues Wetter, graue Stadt, graue Menschen, nur unterbrochen von den blauen Lichtbahnen der Scheinwerfer. Was für ein Elend. "Ist das noch Mümmelmannsberg oder schon Tschernobyl?" frag ich den Exilwestfalen. Wahrscheinlich ist es London, denn in der ersten Hälfte des Konzertes gibt es Steven Wilsons neues Album Hand.Cannot.Erase. am Stück, ein Konzeptalbum, inspiriert von der Geschichte einer jungen Frau, die mehr als zwei Jahre lang tot in ihrer Londoner Wohnung lag, ohne von Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen vermisst zu werden.

Ein Album, zu dem ich bislang wenig Zugang gefunden habe, aber live klappt das auf einmal ganz hervorragend. Konzeptalben sind einfach nichts, was man so nebenbei hören kann, da muss man sich mit beschäftigen (wollen). Das macht Wilson uns leicht, die Band und der Sound sind ganz fantastisch und die Bilder auf der Leinwand die perfekte Ergänzung dazu. Ein Gesamtkunstwerk - und einfach nur schön. Eine melodieverliebte melancholische Schönheit, die nicht einmal durch metalbrutale Hörsturzattacken und ausufernde Keyboardorgien zerstört werden kann. Dafür gibt es zwischendurch stehende Ovationen vom Publikum, was für ein geiles Konzert, schon im ersten Teil.

Hätte der Exilwestfale nicht vor ein paar Wochen gefragt wer Lust auf Steven Wilson hat, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen mir eine Karte zu besorgen, Prog ist normal überhaupt nix für mich, das konnte ich schon in den 70ern selten vertragen. Eine der wenigen Ausnahmen sind Porcupine Tree, die sind zwar auch manchmal anstrengend, aber der überwiegende Teil entschädigt für die Anstrengungen. Abgesehen davon kann man schon froh sein wenn es überhaupt mal Konzerte an einem Wochenende gibt, da denk ich nicht zweimal nach.

Etwas Porcupine Tree gibt es dann auch, wie vorher vom Künstler versprochen, nach der Pause. Open Car und Lazarus, letzteres als Hommage an David Bowie, in dessen Œuvre ja ein gleich lautendes Stück zu finden ist. Dazu ein paar Stücke aus einem demnächst erscheinenden Album und etwas von hier und etwas von da... der Mann ist ja sehr umtriebig und hat außer Musik keine weiteren Interessen, da kann man außer Soloplatten auch noch ein paar andere Projekte betreiben.

"Besser als Kraftwerk" meint ein sehr zufriedener Exilwestfale nach gut zweieinhalb Stunden inklusive Zugaben und auch wenn ich das nie vergleichen wollen würde, Steven Wilson gucke ich mir ganz sicher nochmal an. Am besten mit Porcupine Tree und nicht unbedingt im CCH, obwohl nicht einmal diese hässliche Kongresshalle heute die Atmosphäre trüben konnte.

Melancholiefotos: Steven Wilson, Hand.Cannot.Erase.Tour, Congress Centrum Hamburg Saal 1, CanonSX280 Kompaktknipse
Melancholiebier: Braukatz No.1 Pale Ale, 5.4%, Brau-Manufactur Allgäu
Melancholiemusik: Steven Wilson - Hand.Cannot.Erase. / Porcupine Tree - Deadwing





13 Kommentare:

  1. Nie gehört - weder den namen noch die Musik.
    Soll ich?

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    1. Unbedingt. Solo "The Raven That Refused To Sing" (mit Alan Parsons) und "Hand.Cannot.Erase."
      Von Porcupine Tree sind "In Absentia" und "Deadwing" meine Favoriten. Außerdem hat er noch diverse andere Projekte laufen von denen ich allerdings nichts kenne, das läuft musikalisch scheinbar alles auf anderen Pfaden, Artrock, Ambient, Krautrock, wie gesagt ein ziemlich umtriebiges Kerlchen, entsprechend lang ist auch sein Eintrag bei Wikipedia inzwischen.

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  2. geht mir genauso, nie gehört. aber wir leben musikalisch auch in völlig unterschiedlichen welten *g*

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    1. Ja. Ist auch nichts für Dich. Nicht die leisesten Anklänge von Schlager..*fg*

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    2. SCHLAGER? ich schlag dich gleich :p

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    3. Ich habe heute im Auto aus Versehen Revolverheld gehört, wenn das kein Schlager ist dann weiß ich auch nicht...

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  3. Höre mir das Album just an. Bis knapp zur Hälfte bin ich schon durchgedrungen. Glaube aber nicht, daß es bis zum Ende laufen wird. Geht nicht an mich, zu "proggig"; für Nebenbei sowieso - wie Du schon oben schrobst. ;-)
    Was aber ebenfalls nicht zwingend heißen muss, daß ich mir die Mucke nicht auch Live reinziehen könnte. Unter Zuhilfenahme einer ausreichenden Menge an Betäubungsmitteln und netter Gesellschaft sicherlich kein Problem. ;-)

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    1. Ganz vergessen: brauen'se nu in Bajuwarenland mittlerweile auch schon Ami-Plörre ? *tztztz*

      -> *duck & renn*

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    2. Auch unter Bajuwaren gibt es halt Kenner, die keine Lust mehr haben auf geschmacklose Filterplörre :p

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  4. Ächz. Als ich voriges Jahr von dieser Konzeptgeschichte las, war ich angefixt und fast hätte ich das Album auch gekauft. Mit "normalem" prog a la der großen 3 aus den 70ern hab ich normalerweise keine Zugangsschwierigkeiten. Porcupine Tree halte ich aber für überschätzt. Hab mich da mit der "In Absentia" seinerzeit bekauft und war deshalb vorsichtig: Wilson kann einfach nicht singen. Er lallt die Texte so empathielos dahin - brrr. Auch dieses Raven-Dingens...ein wunderschönes Video, ein toller text, aber diese lahmarschige Dudelei.... nä. War auch nix für mich.
    Zu den Tracks, die es von Hand. cannot. erase. bei youtube zu hören gab,war ich dann auch dementsprechend enttäuscht. - Auf das Konzerterlebnis bin ich trotzdem neidisch. Da wär' ich auch hingegangen. Manchmal beamt es ja die bisher ungenießbare Musik doch noch auf.

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    1. Da kann man mal sehen wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind, eigentlich wollte ich schreiben dass der Mann auch noch singen kann, für mich hört sich das überhaupt nicht empathielos an und gerade die mehrstimmigen Parts finde ich sehr schön, erinnert fast ein wenig an CSNY manchmal *g*
      Ich muss allerdings ehrlich zugeben, dass ich nicht weiß ob die Scheibe noch viel Chancen gehabt hätte ohne das Konzert.

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    2. Nachtrag: das Beste an dem andauernden Wilson/Prcupine Tree Hype war für mich der Hinweis auf Opeth: Deren Boss Akerfeldt und Wilson sind Kumpels, die sich gegenseitig befeuert haben: Die "Watershed" von Opeth kennen gelernt zu haben - das war für mich DAS DING, das die ganze Beschäftigerei mit Wilson-Interviews und Porcupine-Bekauf dann doch wieder rentabel werden ließ.

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    3. Da habe ich gerade mal reingehört und das geht wiederum gar nicht an mich, was möglicherweise daran liegt, dass man sich damit ebenfalls intensiver beschäftigen muss, aber dafür ist mir das zu pompös-metallisch und wenn dann noch diese Growlattacken dazukommen stellen sich die Nackenhaare auf. Wenigstens kann er singen wenn er nicht gröhlt, aber die Mucke ist vieeel zu anstrengend für mich :D

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