Montag, 15. Dezember 2014
Nicht mehr als erwartet
Vorspiel
Um 10 klingelt das Handy und ein kalter Luftzug weht mir vom Fenster durchs Gesicht, unter der Decke ist es angenehm warm und endlich könnte ich mal ausschlafen. Das Ding hat keine Schlummerfunktion, es wäre so einfach, nur die Augen wieder schließen. Jenseits des Fensters sieht es kalt und grau aus, ich sollte liegenbleiben, das wird nicht angenehmer. Dummerweise habe ich zwar schon ein Kind erzogen, habe aber noch einen Brief zu schreiben und ein Fußballteam zu supporten, also reiße ich mich zusammen, auch wenn es mir zum ersten mal seit Jahren schwerfällt.
Gibt eigentlich irgend etwas Hoffnung? Die zweite Halbzeit gegen Kaiserslautern? Phasenweise. Oder die ersten 15 Minuten, die waren auch nicht so schlecht, außer dass wir nicht getroffen haben und sich das gerächt hat. Zusammengenommen vielleicht 30 bis 40 Minuten in denen wir nicht mal so schlecht ausgesehen haben. Phasenweise gut waren wir in einigen Spielen. Aber Phasen sind zu wenig, was soll mir die Hoffnung geben, dass sie beim nächsten Spiel jetzt aber wirklich alles raushauen, so wie sie es vor jedem neuen Spiel wieder phaseln? Was soll mir die Hoffnung geben, dass sie die Zeit mal auf 70 bis 80 Minuten ausdehnen können, in denen sie ganz gut sind? Dann kann man Spiele auch mal gewinnen, wenn man in den Schwächephasen nicht wieder 3 bis 4 saudumme Fehler macht, die der Gegner einfach ausnutzen muss wenn er nicht völlig schlafmützig ist.
Ich bin wirklich nicht der Fußballexperte vor dem Herrn, aber manchmal frag ich mich echt was die da unten machen. Ob da auch nur einer irgend einen Plan hat. So haben wir Fußball gespielt damals, in der Holzklasse. Hamburger Tresenliga, Kneipenfußball. Grandplatzgrätsche. Fünf bis sechs in die Abwehr und der Rest versucht irgendwie Tore zu schießen. Wer die Pille hat rennt nach vorne und versucht das Ding zu versenken, Flanken kann man mal versuchen, aber wenn man zufällig den eigenen Mann im Strafraum trifft, weil da zufällig einer steht, dann ist die Chance sehr hoch dass der den verdaddelt, weil, Ballkontrolle bei dem Zuspiel? Geht’s noch? Bin ich Maradona oder was?
Aber das sind Profis da unten, die machen den ganzen Tag nichts anderes als Ballspielen. Die können nach Herzenslust die Blutgrätsche trainieren, das tut nicht weh auf Rasen. Die trainieren so Zeugs wie „Laufwege“ und „Räume eng machen“, richtiges Taktikgedöns. Trotzdem sieht das da unten manchmal so planlos aus wie bei uns damals. Phasenweise. Leider zur Zeit in den entscheidenden Phasen.
Und Bochum? Soll gut gewesen sein, phasenweise. Immerhin dreimal in Führung gegangen, aber sich auch dreimal wieder die Butter vom Brot nehmen lassen. Hätten sie dort 0:3 gewonnen könnte die Hoffnung tatsächlich ein wenig schimmern, nur schätze ich Darmstadt weit stärker ein. Mit einem Punkt gegen die können wir glücklich sein, obwohl das viel zu wenig ist eigentlich.
Im Stadion wird es auch immer entspannter, eine gute Stunde vor Anpfiff kann ich mir den Ordner aussuchen am Eingang, alle beschäftigungslos. Am Bierstand sieht es ähnlich aus, die Fassträger betteln geradezu um Aufmerksamkeit. Mein Nachbar hat einen Kumpel mitgebracht, einen Münchner Löwen, der im langjährigen Exil dem magischen FC verfallen ist und jetzt befürchtet, dass beide Vereine im nächsten Jahr ein Drittligaduell bestreiten müssen. Halte ich inzwischen alles für möglich, da unten sind schon viele bekannte Namen aufgetaucht, was einen sofortigen Wiederaufstieg nahezu unmöglich machen wird. Also müssen heute drei Punkte her, auf Biegen und Brechen.
Tschauner sieht irgendwie verloren aus, wie er sich da unten alleine aufwärmt, während Himmelmann von Matze eingeschossen wird. Das versetzt mir doch einen kleinen Stich, wenn ich an die häufigen Rettungstaten denke, für die er hier im Stadion mit Sprechchören abgefeiert wurde. Ich hab Tschauner in den letzten Jahren zu sehr ins Herz geschlossen, trotz seiner Schwächen. Mit Torwartwechseln konnte ich mich sowieso nie gut anfreunden, schon seit Thomforde und Ippig sich abgelöst haben.
22 Jahre waren die Darmstädter nicht mehr am Millerntor, die Gästehymne wird folglich (groß angekündigt) das erste Mal hier gespielt und ist tatsächlich die erste wirklich hörbare. Darmstädter Fußballpunk, nicht schlecht wenn man von Gästen sonst ausschließlich peinliche Schlager und Volksgetröte vorgesetzt bekommt, hoffentlich geht die Mannschaft nicht so ab wie die Hymne.
Unsere Aufstellung wird vom Lazarett bestimmt, mit Litka, Uphoff und Startsev sitzen gleich drei Spieler aus der U23 auf der Bank, aber immerhin auch Ratsche. Wie ist der so schnell wieder auf die Beine gekommen? War da nicht was gerissen? Budimir im Sturm, weil Johnny ne Bronchitis hat, Buchtmann verletzt, Gonther angeschlagen und Maier grippegeschwächt, trotzdem beide in der Startelf. Klingt alles nicht, als müsste man sich viel Hoffnung machen.
Spiel (1)
Darmstadt ist die aktivere Mannschaft, das hab ich fast erwartet, stört früh, setzt uns unter Druck. Wir stehen hinten eng und können fast alles verhindern, was zu gefährlich werden könnte. Wenn es doch mal gefährlich wird haben wir zwar das nötige Glück, aber kriegen nur wenig Entlastungsangriffe zustande. Sieht aus als wollten sie Darmstadt das Spiel überlassen und auf einen Konter hoffen, was bei unserem Umschaltspiel eine gewagte Hoffnung ist. Eine Ecke fischt Himmelmann so schön aus der Luft, dass ich bei Ecken vielleicht etwas beruhigter sein kann in Zukunft, so weit raus wäre Tschauner nie gekommen. Seine Abschläge sind auch weiter, daran sollte sich die Mannschaft gewöhnen, dann kriegen sie vielleicht auch mal einen davon, so verpufft die Wirkung ein wenig. Nach vorne harmlos, nach hinten vergleichsweise sicher. "Die Null soll heute unbedingt stehen" sagt mein Nachbar. Das wäre dann wenigstens ein Punkt. Vorne müsste dann nur noch jemand ein blödes Murmeltor machen und es wären drei.
Die Stimmung auf den Rängen ist angemessen für ein schlechtes Sonntagmittagspiel, da helfen weder Bier noch Sportzigarette, der Support ist so lausig wie das Geschehen auf dem Rasen. Wenn wir uns schon ergeben wird es auch nicht besser, verdammt. Ein wenig Hoffnung auf Besserung glimmt auf, als der Schiedsrichter sich mit fragwürdigen Entscheidungen unbeliebt macht. Schachter wird gelegt und den Freistoß bekommt Darmstadt? Wtf? Das weckt selbst die dösende Gegengerade auf, richtig Schiri, weiter so. Noch ein paar solche Dinger und die Hütte brennt, vielleicht hilft das ja.
In den letzten fünfzehn Minuten kommen wir zwar etwas besser nach vorne, aber das ist überwiegend harmlos, weil Budimir höchstwahrscheinlich doch nicht der neue Mandzukic ist, der solche Spiele durch einen genialen Einfall entscheiden kann. Immerhin zieht er mal ein Foul, aber auch die Freistöße sind zu harmlos. Die Abwehr der Darmstädter ist mit so etwas nicht zu bezwingen, es geht mit ohne Tore in die Pause.
Zwischenspiel
Der Lange sitzt heute mal wieder auf seinem Platz, Zeit für eine professionelle Einschätzung der Lage. "Besser als gedacht" sag ich und muss mir was von Scheißspiel und rosaroter Brille anhören, dass wir nach vorne viel zu blind sind und mindestens zweimal richtig viel Glück hatten. Krasser Fall von Missverständnis. "Wir haben noch keinen kassiert" entgegne ich, "es steht 0:0 und das ist besser als ich gedacht hab." Ach so, ja klar. Klingt logisch. Die Lösung der Probleme liegt wie immer auf der Hand, wir brauchen Verstärkung in der Winterpause und Naki am besten sofort. Wieso spielt der nicht schon längst. "Weil der ohnehin erst in der Rückrunde spielberechtigt wäre" doziere ich oberschlau, obwohl ich das eigentlich gar nicht hundertprozentig verifiziert habe. Stand jedenfalls im Forum und widersprochen hat keiner, soweit ich mich erinnern kann. Und so sicher bin ich auch nicht mehr, dass der uns weiterhelfen kann.
Das Pausengespräch hindert mich an der selbst auferlegten Chronistenpflicht, aber bei den Halbzeittapeten kann man ziemlich sicher sein, dass die bei KleinerTod vollständig zu sehen sein werden. Dafür wandert eine vom Autohof direkt unter uns vorbei, mit viel Mühe kriege ich den Inhalt halbwegs zusammen. Rachid, was ist jetzt mit Raki? Der Kleine wird in fast jeder Ecke des Stadions als Heilsbringer angesehen, wenn Deniz tatsächlich wieder einen Vertrag bekommt kann ich nur hoffen, dass er sich nicht nur als Maskottchen entpuppt, das man lustig auf Schnaps reimen kann.
Spiel (2)
Es ändert sich nichts, wieso sollte es auch? Ein paar Angriffsversuche, dann hat Darmstadt wieder die Spielkontrolle, ähnlich wie in der ersten Hälfte. In Folge natürlich auch die besseren Chancen, wir kriegen aber immer noch ein Bein dazwischen. Nach zehn Minuten geht Okan Kurt vom Platz und Ratsche kommt, der könnte das Spiel tatsächlich noch beleben, er und Schachten, die ackern wenigstens. Nach vorne die Himmel-hilf-Taktik, doch der Himmel hilft Budimir nicht, der Himmelmanns weite Abschläge meist alleine verarbeiten muss. Die gehen inzwischen auch gerne mal ins Seitenaus, was ein Argument weniger für den Wechsel ist. Die Kälte kriecht langsam von hinten durch die Jacke, das ist so anstrengend, das ist wieder Tresenliga was hier gespielt wird. Kopflos, planlos, hilflos, aber wenn nicht auch noch glücklos dazu kommt ist es ein Punkt mehr als erwartet. Meggle reagiert mit Wechseln, alle 10 Minuten einer. In der 70. Thy für Budimir, in der 80. Litka für Buballa. Halstenberg versucht es aus der Distanz, direkt auf den Torwart. Thy muss sich an der Eckfahne gegen zwei Mann alleine durchsetzen und holt eine Ecke raus, aber auch die sind bei uns harmlos.
Und als ich mich schon mit einem glücklichen Punkt zufrieden geben will passiert das Erwartete doch noch, vier Minuten vor Schluss. Ein Murmeltor, ungeschickt verteidigt, den Holzfuß rausgeholt und den Gegner beschenkt, 0:1. Ein richtiges Scheißtor, weil der Schiedsrichter ein Foul nicht pfeift und Darmstadt so in Ballbesitz kommt, dann kriegen wir die Pille nicht raus, lassen sie am Strafraum spielen, Sobiech wertet einen Schuss zur Stockfehlervorlage auf und drin ist das Ding.
Lähmendes Entsetzen natürlich, weil jeder weiß, das Spiel ist gelaufen. Wieder kein Zähler, nicht mal einer, weil diese Mannschaft in den letzten 5 Minuten nicht mehr zustande bekommen wird als in den vorhergehenden 85. Nicht mal so ein Zufallstor wie das hier, weil "glücklos" in unserer Situation immer hinzukommt, das ist Gesetz. Es gibt drei Minuten obendrauf in denen sich nichts ergibt, also nicht mehr als erwartet, nur halt weniger als erhofft und das schmerzt auch.
Noch mehr schmerzt die Erkenntnis, dass die Mannschaft nicht zweitligatauglich ist, wir werden absteigen. Die Hinrunde ist durch, die Rückrunde beginnt in wenigen Tagen mit einer Hinrichtung in Ingolstadt und selbst wenn wir nächstes Wochenende gegen Aalen drei Punkte holen, weil das einer der Gegner auf Augenhöhe sein soll, wird das nicht reichen. Zum ersten Mal seit Jahren gehe ich aus dem Stadion bevor die Mannschaft das Feld verlässt, ich mag nicht pfeifen, aber klatschen mag ich heute auch nicht, das ist alles zu deprimierend gerade.
Nachspiel
Koschi quatscht mich von der Seite an als ich mir noch ein Bier hole, Herr B. ist schon raus, den treffen wir vor den Fanräumen. "Heute haben wir den ersten Absteiger gesehen" ist sein erster Satz "und wir werden lange unten bleiben. Drei oder vier Jahre." Dagegen ist schwer was zu sagen, ich habe leider keine Mannschaft gesehen die hier schlechter aufgetreten ist als wir. Die positiven Seiten muss man sehen sagt Koschi, bessere Anstoßzeiten und man spart Geld, weil wir wieder mehr Sicherheitsspiele ohne Alkohol bekommen. Galgenhumor allez.
Ein letztes Bier und die letzte Sportzigarette später verabschiedet sich die Tresenkurve gen Heimat und ich suche was warmes für die kalten Tage, der Museumsverein hat Hoodies in meiner Größe. Im Fanladen gibt es die nicht, dafür wieder jede Menge neue Sticker, die gnadenlos zur momentanen Stimmungslage passen. Galgenhumor allez, schon wieder. Für den Hoodie schicken sie mich vor die Südkurve, da stünde ein Museumscontainer. Bei der Gelegenheit könnte ich mir gleich einen Hassburger reinziehen, doch der alte Vegetarier ist nicht da, beim neuen gibts nur vegane Currywurst, das ist nix für mich. Die nichtvegane Frikadelle am Imbiss daneben ist dafür so ausgezeichnet, dass ich mir gleich eine zweite bestelle. Imbissfrikadellen taugen selten was, aber die hier sind echt besser als erwartet.
Solche Überraschungen hätte ich in einem Spiel auch gerne mal wieder.
Abstiegsangstberuhigungsmusik: Coleman Hawkins - The Hawk Flies High / Body and Soul
Mit Ewald Lienen wird alles wieder gut.
AntwortenLöschenUnd mit Naki natürlich erst recht... ;-)
Früher habe ich mir Ewald schon immer mal (aus politischen Gründen) gewünscht, heute hoffe ich erst mal auf eine sportlich richtige Entscheidung. Und Naki kommt nicht, der war wohl zu patzig im entscheidenden Interview.
LöschenAlder, wat für'n Chaos, das ist wieder das Sankt Pauli das man kennt. Azzuzi raus, Meggle befördert, dazu Zettel-Ewald und nu doch kein Naki, ich weiß nich recht was das werden soll. Neururer hätte meiner Meinung nach besser gepasst. Andererseits haben wir ausser linken Fans und einem linken Präsidenten jetzt auch noch einen linken Trainer, das kann auf lange Sicht nur eins bedeuten: Europapokal :))
AntwortenLöschenOder Volkseigener Betrieb *fg*
Azzouzi fand ich im persönlichen Gespräch immer sehr sympathisch, seine Ideen von langfristiger Entwicklung immer sehr gut und auch nachvollziehbar. So ziemlich jeder hat anfänglich gejubelt, als er junge Leute mit Perspektive geholt hat und die gleich für 3 Jahre, statt weiter auf Ausleihen zu setzen die nach einem Jahr wieder weg waren. Ich glaube auch nicht dass er ein schlechter Sportdirektor ist, der hat einfach verwachst, das kann jedem passieren. Mit Frontzeck wären wir nicht in dieser Lage und ich hab einfach keine Ahnung wie weit Azzouzi diese Entscheidung mitgetragen hat oder mittragen musste, weil ein Herr Orth mehr Spektakel wollte.
LöschenMit der Ernennung von Meggi zum Sportdirektor haben sie geschickt seine Entlassung oder Degradierung umgangen und damit die Beschädigung einer St.Pauli Ikone verhindert. In dem Job muss er sich jetzt allerdings beweisen, sonst ist er bald völlig verbrannt.
Der Verpflichtung von Naki stand ich von vornherein skeptisch gegenüber. Hätte gut gehen können, wenn er sich wirklich auf dem Platz zerrissen hätte, und davon gehe ich aus, der wäre steil abgegangen. Hätte aber auch sein können, dass er sich mehr auf seine Rolle als Publikumsliebling konzentriert wenn er nur auf der Bank sitzt, weil steil abgehen nicht gereicht hat in den letzten Einsätzen. In dem Fall haste dann richtig Spaß. Ich überlasse den Kurven nicht so gerne die Entscheidung über sportliche Entscheidungen, die Fachleute sitzen i.d.R. auf der Bank.
Volkseigener Betrieb? Sind wir doch schon lange *g*