Sonntag, 20. November 2022

Land zwischen den Deichen

 









Kein Mensch, der noch halbwegs bei klarem Verstand ist, fährt freiwillig die Strecke von Hamburg nach Hemmoor. Auch wenn man sich einen Teil der berüchtigten B73 durch die Autobahn zwischen Horneburg und Stade sparen kann, es bleiben immer noch genug Kilometer übrig, auf denen Autos mit CUX auf dem Kennzeichen fahren, die LKW nicht überholen können, die wiederum Trecker nicht überholen können, weshalb man unter Umständen eine ganze Weile mit 25 km/h durch die Gegend zuckelt, wenn man nicht gerade zehn Minuten vor einer Baustellenampel steht.

Waghalsige Überholmanöver scheiden aus, denn wir besuchen die letzte noch lebende Verwandtschaft und es wäre doch ziemlich blöd, wenn die andere noch lebende Verwandtschaft dann nicht lebendig ankommen würde. Also erträgt man stoisch den Verkehr, es hat immer schon zwei Stunden gedauert und es wird bis in alle Ewigkeit zwei Stunden dauern, ganz egal wie viele Straßen die noch bauen.

Zur Belohnung gibt es selbstgebackenen Pflaumenkuchen und ich kann im Familienarchiv wühlen, historische Fotos von Groß- und Urgroßeltern, Onkeln, Tanten, Unbekannten. Jede Menge Stoff, von der Feldpostkarte aus dem ersten Weltkrieg bis zur weitgehend unbekannten Verwandtschaft in Kanada. Muddern als Teenager ist die Krönung, aber was ich mir insgeheim erhofft hatte ist natürlich nicht dabei. Kein Mensch hat jemals Fotos von Hemmoor gemacht! 

Das ist zwar nicht weiter verwunderlich, weil die größte Attraktion eine über 100 Jahre alte Schwebefähre über die Oste ist und der Rest weitgehend aus Feldern besteht, aber so existiert scheinbar kein einziges Foto der legendären Dorfkneipe, in der sämtliche Festivitäten des Dorfes stattfanden, vom Schützenfest bis zur Feuerwehrhauptmannshochzeit. Und natürlich gibt es auch keins von meinem Großelternhaus.

Das allerdings könnte ich nachholen, denn das steht immer noch. Wahrscheinlich schon lange mit Warmwasser und ohne Plumpsklo und Kohleherd, aber möglicherweise auch ohne Birnenbaum, ohne Kirschbaum, ohne Stachel- und Johannisbeeren oder Rhabarber und ganz bestimmt ohne Erbsen. Um das zu verifizieren müsste ich vielleicht einfach nur hingehen und klingeln, aber da wohnen angeblich komische Leute mit großen Hunden die niemand kennt (die Leute, die Hunde aber wohl auch) und das finde ich geradezu schockierend. Hemmoor ist zu groß geworden. Leute die niemand kennt gibt es ja nicht mal in einer Kleinstadt.

Eins aber ist noch unverändert, seit Thees Uhlmann die Stadt verlassen hat:

Hier gibt es Restaurants, in die niemand gehtWeil das Essen um Punkt sechs auf den Tischen steht

Ich hätte, trotz des Pflaumenkuchens, irgendwie schon gern mal geguckt was das Familienrestaurant Pommes Piraten so zu bieten hat, weil Piraten triggert halt immer, aber das hat entweder die Coronakrise oder Hemmoor nicht überlebt.


Fotos dazu: Oste bei Hechthausen/Schwebefähre/FeldWaldWiese/Osten am Deich - Nikon D7200

Musik dazu: Bob Dylan - Blood On The Tracks/Hard Rain/Real Live 









2 Kommentare:

  1. Jaja, das gute alte Heimatdorf … Von den drei Kneipen (jeweils inklusive Wirtin, die bei Bedarf Bratkartoffeln brutzelte) in meinem hat keine überlebt. Und auch die Bäckerei und die drei (!) Tante-Emma-Läden nicht. Immerhin gibt es das Schwimmbad noch, in dem ich in den Semesterferien als „Bademeister“ jobbte. Die Fotos aus den alten Alben und Pappschachteln habe ich übrigens alle sorgsam gescannt; sie laufen jetzt bei meiner Mutter in der Küche auf einem elektronischen Bilderrahmen in Dauerschleife.

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    1. In der besagten Dorfkneipe durfte ich 1966 miterleben, wie die Schweiz von der deutschen Nationalmannschaft zerlegt wurde, auf dem wahrscheinlich einzigen Fernseher Hemmoors und hab dabei mehr Brause eingeschenkt bekommen, als mein kindlicher Magen vertragen konnte. Heute steht da ein Baustoffhandel und das ist einfach ein herber Kulturverlust.
      Die Familienerbstücke habe ich selbstverständlich beschlagnahmt und werde sie bei Gelegenheit dem Scanner zuführen.

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