Sonntag, 30. November 2014

Arschkalte Adventsgeschenke




















Vorspiel
"Am siebten Tage sollst Du ruhen" sprach der Herr, "oder zumindest ausschlafen" hätte er hinzufügen sollen, aber damals wusste er noch nichts von Sonntagsspieltagen, was ein schlechtes Licht wirft auf dieses Ding mit der Allmächtigkeit. Das Thermometer zeigt Minusgrade, da werde ich wohl die Winterjacke aus dem Schrank holen müssen, denn der Glaube auf dem Platz nachher etwas Erwärmendes zu sehen fehlt mir irgendwie. Emotionslos wie selten mache ich mich auf den Weg, und das gegen Kaiserslautern. Wer keine Erwartungen hat kann nicht enttäuscht werden.

Erwartungen hatte ich gegen die "Region" eigentlich nie, aber manchmal wurde man überrascht. In der Bundesliga, als wir durch Tifferts Eigentor gewannen, mit mehr Glück als Verstand damals. Viel Kampf und Krampf war eigentlich immer dabei. In der letzten Minute den Ausgleich schießen und in der allerletzten noch einen einfangen. Nee, heute haben wir eigentlich keine Chance, nicht in der momentanen Verfassung, völlig egal wie viele Auswärtsspiele die nicht gewinnen konnten, bei uns ist es einfach gerade.

Im Stadion ein Bier mit Pfandbecher, mit Henkel werden die Hände nicht so kalt. So um den Gefrierpunkt herum schmeckt es tatsächlich noch, erst ab minus 8 wird es grenzwertig. Mein alter Nachbar ist schon auf seinem Platz und wir kommen ins Klönen. Er war in Leipzig und hat einiges zu erzählen über das grauenhafte Klatschpappenpublikum, Gummibärenbrausegetränke, unfreundliche Begegnungen mit provozierenden Schildkröten und freundliche Begegnungen mit Leuten vom magischen Fanclub, dem er sich unterwegs spontan anschließen durfte. Als er mir erzählt, dass die Bullen sogar seine Aufkleber konfiszieren wollten, kommt mir die Geschichte auf einmal sehr bekannt vor, denn die hab ich schon im Blog des Magischen Fanclubs gelesen. So klein ist die Welt. Wer mal lesen will wie man von Leuten behandelt wird, die man durch seine Steuern auch noch bezahlen muss, der sollte sich das unbedingt durchlesen.

Dass man auch als harmloser Rentner von den unförmigen Uniformierten unter Generalverdacht gestellt wird, sobald man mit St.Pauli Schal in der Gegend herumläuft, war mir allerdings klar. So weit bin ich von der Rente auch nicht mehr weg, und wie sich das Pack benimmt wenn es in der richtigen Stimmung ist weiß ich zur Genüge. Auf solche Spielchen habe ich einfach keinen Bock mehr, und weil ich weiß, dass ich im Ernstfall meine Fresse garantiert nicht halten kann, meide ich bestimmte Auswärtsfahrten lieber gleich. Leipzig ist gerade auf die Liste gekommen, dahin fahr ich lieber mal privat.

In der Meckerecke hängt ein neues Banner, darüber hat mich Koschi schon gestern am Telefon informiert, damit ich das auch fotografiere. Stehen schon zu viele Leute davor, unter anderem Koschi selber, der das wohl aufhängen musste. Vielleicht geh ich in der Halbzeit mal runter in die Ecke, da kann man sein Bier wenigstens an den Zaun hängen.

Während ich noch darüber nachdenke erscheint der Dartmeister auf seinem Platz und reicht mir die Flosse. In der befindet sich die Dauerkarte des Langen, der seinen Geburtstag gestern etwas zu intensiv gefeiert hat. Das ist sehr praktisch, auf Sitzplätzen kann man bei Gegentreffern einfach gefahrloser in sich zusammensacken, ich wechsle ein Stockwerk höher und komme rechtzeitig zur Gästehymne, bei der sich wieder jeder fragt, warum sich keiner der Gäste dagegen wehrt. Ich glaub aber, die mögen das Gejodel. Pfälzer sind anders, ehrlich. 

Bei uns gibt es eine Adventsüberraschung, Bentley Baxter Bahn in der Startelf und äh, kein Stürmer? Weder Verhoek noch Budimir? Soll das Bahn machen? Thy? Oder wer? Görlitz für den verletzten Ratsche dabei, Buchtmann und Halstenberg, der kann wenigstens aus der zweiten Reihe. Konnte er jedenfalls mal. Das Herz von Sankt Pauli spielen wir heute aus, die Glocken läuten, das Konfetti fliegt und auf dem Platz wird immer noch ein Transparent gezeigt, auf dem sich die Liga oder wer auch immer bei allen Menschen bedankt, die ein Ehrenamt ausüben. Dass der Dank ganz stur in Richtung Haupttribüne gezeigt wird, obwohl die anfänglich nicht einmal zur Hälfte besetzt ist, halte ich für eine ganz tolle Idee. Auf anderen Tribünen sind garantiert keine Menschen zu finden, die irgendein Ehrenamt in irgendeinem Sportverein der Stadt ausüben. Völlig unmöglich.


Spiel (1)
Der Wille ist erkennbar, doch. Muss man sagen, auch wenn wir nach zwei Minuten schon die erste Ecke gegen uns haben, die Tschauner allerdings sicher aus der Luft pflückt. Weil wir sonst immer viel zu brav sind befleißigen wir uns heute einer etwas rustikaleren Spielweise, das sieht immerhin nach Kampf und Einsatzwillen aus. Der eine oder andere Eckball und Freistoß springt dabei heraus, bringt zwar alles nichts ein, aber sieht gut aus, denn Kaiserslautern kommt kaum über die Mittellinie. Wir schnüren sie wirklich hinten ein, das habe ich so nicht erwartet.

Knappe zwanzig Minuten geht das so, dann kontert Lautern, rutscht Halstenberg als letzter Mann auf dem Rasen aus und kann nur noch hinterherlaufen, kommt folgerichtig seine Grätsche zu spät und der Pass durch, 0:1. Es ist echt nur noch zum kotzen, da machen sie zwanzig Minuten fast alles richtig und dann verteilt wieder einer Geschenke. Und natürlich können sie auf einmal überhaupt nicht mehr Fußball spielen, verdammte Psychokacke. Nach vorne übel, Schussversuche wie meine Mutti, Pässe in den leeren Raum und nach hinten völlig kopflos. Katastrophenfehlpass von Bahn, keiner ist verantwortlich, keiner geht hin, einer bedankt sich dafür. 0:2. Wir verteilen fröhlich Adventsgeschenke, das wird ein Debakel, ich sehe es schon kommen, die kriegen kein Bein mehr auf den Boden..

Wir kriegen nichts, aber auch gar nichts mehr zustande, da sind Kullerbällchen dabei wie im Kindergarten, es ist zum heulen. Was geht in den Köpfen vor da unten? Eins, zwei, Ballverlust, wie immer, wie seit inzwischen gefühlten Jahren. Kein Fußball. Aber wir retten uns in die Pause, mit nur zwei Gegentreffern.

Zwischenspiel
Der Dartmeister besorgt eine neue Lage Bier, was man hier in der ersten Reihe bequem vor sich abstellen kann, wenn man sich mit dicken Winterjacken halbwegs vorsichtig bewegt und es in die Hand nimmt sobald jemand vorbei will, ansonsten landet es schnell auf den Stehrängen. Ich fotografiere den recht simplen Becherhalter meines alten Stehplatznachbarn und frage nach, wieso hier noch niemand etwas ähnliches installiert hat. Darüber hat scheinbar noch nie jemand nachgedacht, wenn in den nächsten Spielen jemand daran denkt das Gedengel mal auszumessen werde ich in unserer Werkstatt etwas in Auftrag geben, das ist ja kein Zustand.

Über Spiel und Mannschaft mag keiner reden, es ist nur noch erschreckend. Dabei hatten wir einen guten Plan, junge Spieler die sich entwickeln sollten, langfristige Verträge mit diesen jungen Spielern, damit sie nicht gleich wieder weg sind wenn wir in 2 bis 3 Jahren um den Aufstieg mitspielen. Bei dem Plan hätten wir bleiben sollen, statt vorzeitig einen erfahrenen Trainer zu feuern, nur weil man mit etwas mehr Spektakel hoffte, das Ziel eher zu erreichen. Zwei Trainer später steht eine völlig verunsicherte Truppe auf dem Platz, die sich von Spiel zu Spiel tiefer in die Scheiße reitet. Große Spiele sind wahrlich lange her, es gab Zeiten in denen man berechtigte Hoffnung hatte, ein 0:2 noch drehen zu können.

Spiel (2)
Bahn und Alushi bleiben draußen, Verhoek und Ziereis kommen. Auswirkungen hat das nicht großartig, Kaiserslautern kontrolliert weiterhin das Spiel, weil wir einfach zu ungenau sind, die Bälle verspringen, die Zuordnung fehlt. Wir haben mehr als einmal Glück, dass die Geschenke nicht angenommen werden oder irgend jemand am Ende doch noch den Fuß dazwischen hält, sehr oft ist es Gonther, der schlimmeres verhindert. Manchmal ist es auch Tschauner, der dafür wiederum durch unglaublich schlechte Abstöße auffällt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man das trainieren kann. Wenn das nach Jahren immer noch nicht klappt muss es an den Füßen liegen.

Die Stimmung auf der Gegengerade ist im Eimer, es ist kalt, das Spiel grausam, die hoffnungslose Meute leidet still vor sich hin, und dann kommt der Erlöser. Eine Flanke von Schachten kann Sippel nur mit der Faust klären und Halstenberg hält drauf! Woohoo, nur noch 1:2, da geht vielleicht noch was. Noch eine halbe Stunde zu spielen nach diesem Weckruf, wenn es denn einer ist.

Für die Mannschaft ist es ein Weckruf, sie werden wieder rustikal, kämpfen um die Bälle, setzen nach. Für die Gegengerade ist es ein halber, weil es immer noch hilfloses Gestocher ist auf dem Platz. Weil wir Kaiserslautern zwar wieder unter Druck setzen können, aber die wenigen Chancen kläglich versieben. Kullerbälle. Verhoek steht frei vor Sippel und....Kullerball. Direkt in die Arme und der Support schläft wieder ein. Budimir ist inzwischen auf dem Platz neben Verhoek, Meggi setzt alles auf eine Karte. Wir immer noch bemüht aber einfach zu harmlos und die Zeit verrinnt. Verhoek geht schön durch zur Grundlinie, kann den Ball aber nicht mehr auf Budimir zurücklegen. Wir sind dran, wir sind dran und dan und dann... kommt es wie es kommen muss, ein langer Ball nach vorne, ein Konter von Kaiserslautern und es steht 1:3, drei Minuten vor Schluss. Das war es dann wohl, keine Erwartungen enttäuscht heute.

In der Nachspielzeit kriegen wir die Pille anscheinend noch direkt auf die Torlinie, es sind sogar zwei Mann dabei die das Leder nur auf die andere Seite pieken müssten, aber was man von hier aus sehen kann ist so dämlich, dass man den Schlusspfiff nur als Erlösung sehen kann. Sie haben es versucht, gibt das Hoffnung? Was sonst?

Nachspiel
Auf ein letztes Bier verzichte ich, zu kalt. Eine Sportzigarette habe ich noch in der Tasche, aber vor den Fanräumen ist niemand aus der Tresenkurve zu sehen, eine Currywurst brauche ich nicht, weil auf dem Herd noch ein großer Rest Chinesisch von gestern steht, also mach ich das, was nach einem solchen Tag das vernünftigste ist: ebenfalls nach Hause fahren. Scheiß Advent, schlechte Geschenke.

Adventsgeschenkmusik: Marcus Wiebusch - Konfetti













































Samstag, 29. November 2014

Stadtansichten: St.Georg (2)


















Es gibt schönere Ecken in St.Georg hat jemand über den ersten Teil geschrieben, gemeint ist dann fast immer die Lange Reihe und der nordwestliche Teil bis zur Alster. Hier prägen noch Altbauten und zum Teil historische Häuser aus dem 17. Jahrhundert das Stadtbild. Restaurants und Cafés in der schwulen Hauptstraße Hamburgs laden zum Verweilen ein, wofür ich dummerweise noch nie genug Zeit fand, denn im Cafe Gnosa soll es die weltbeste Schoko-Orangentorte geben und das muss ich unbedingt irgendwann testen.

Die gastronomische Vielfalt ist ohnehin bemerkenswert, es gibt neumodische Burgerbuden, die höchstwahrscheinlich um Klassen bessere Burger fabrizieren als McDonalds und Konsorten, für die Fleischverächter vegane Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten, portugiesische Restaurants, alte Kneipen und portugiesische Restaurants in alten Kneipen. Hier startet am CSD die bunteste Parade der Stadt, was bei diesem Hintergrund ein Fest für Fotografen sein könnte, hätte man auch nur ein klein wenig mehr Platz um sich da mit der Kamera zu bewegen.

Wie überall in Hamburg ist auch diese Ecke massiv von der Gentrifizierung bedroht. Alte Buchhandlungen müssen aufgeben weil die Mieten um das dreifache steigen und auch das Wort Brandsanierung ist hier in den letzten zwanzig Jahren öfter gefallen, weil seltsamerweise immer dieselben Häuser betroffen waren wenn es gekokelt hat. Es ist inzwischen schick und teuer geworden hier zu wohnen, aber wenn Kunst und Kunsthandwerk für die nächste Boutique Platz gemacht haben wird es nicht mehr derselbe Stadtteil sein.

Vielleicht zieht dann auch Udo Lindenberg endlich nach Berlin. Der wohnt schon ewig im Hotel Atlantic und treibt dadurch wahrscheinlich die Durchschnittsmiete in diesem Stadtteil seit Jahren in die Höhe.

Fotos: St.Georgstraße - Dreieinigkeitskirche - Lange Reihe (5-15) - Holzdamm - Atlantic - An der Alster
Musik: Nick Gravenites & Mike Bloomfield - My Labors And More
 



















Freitag, 28. November 2014

Stadtansichten: St.Georg (1)





Gerade einmal zwei Hamburger Stadtteile verdanken ihren Namen irgendwelchen seltsamen Heiligen, St.Pauli (benannt nach einem heiligen Fußballverein) und St.Georg (benannt nach einem heiligen Drachentöter). Eine weitere Gemeinsamkeit, außer der heiligen Namensgebung, sind die beiden einzigen Rotlichtviertel der Stadt, die sich ausgerechnet in diesen Stadtteilen befinden. Glaube und Sünde lagen schon immer eng beisammen. St.Pauli ist sicherlich der bekanntere Name, obwohl alle mit Fernbus oder Bahn anreisenden Touristen ihren Fuß als erstes in den anderen Stadtteil setzen, da sich sowohl der ZOB als auch der Hauptbahnhof (zum Teil wenigstens) im zentral gelegenen St.Georg befinden.

Auf den ersten Blick ein ganz normales Bahnhofsviertel mit den typischen Problemen, die Bahnhofsviertel in Großstädten wohl haben müssen. Drogen und Prostitution, viel Elend und viel Verkehr. Die Junkies sind inzwischen von einem koksenden Ex-Richter vertrieben worden, der die grandiose Idee hatte diese ohnehin schon gebeutelten Wracks mit klassischer Musik zu foltern.
Sein Nachfolger ist Ex-Soldat und bekämpft die illegale Prostitution durch hohe Geldstrafen für potentielle Freier, wodurch sich inzwischen wahrscheinlich niemand mehr traut, eine der auf Kundschaft wartenden Damen auch nur nach dem Weg zu fragen.
Nur die Trinkerszene am Hansabrunnen bekommen sie nicht in den Griff, weil hohe Geldstrafen wenig Sinn haben, bei Menschen die sich gerade einmal ihr Bier leisten können. Klassische Musik in Dauerschleife hingegen wird bei den Anwohnern nicht so gut ankommen. Wahrscheinlich wird dieses Problem nur durch einen koksenden Ex-Soldaten gelöst werden können, der lässt sie einfach erschießen. Die Trinker, nicht die Anwohner.

Auf den zweiten Blick ist St.Georg sehr vielschichtig, sowohl kulturell (Deutsches Schauspielhaus, Hansa- und Ohnsorg-Theater - seit einigen Jahren im Bieberhaus beheimatet - und das Museum für Kunst und Gewerbe) als auch religiös, denn außer der obligatorischen evangelisch-lutherischen Kirche findet man mit dem Neuen Mariendom den einzigen "echten" Dom Hamburgs, die Centrum-Moschee der islamischen Gemeinde und eine Kirche für Lesben und Schwule am Steindamm, auf die wahrscheinlich sogar als Hetero meine erste Wahl fiele, wäre ich auch nur im mindesten religiös.

Trotz der zentralen Lage muss man auch in St.Georg nicht auf grüne Wiesen verzichten, der Lohmühlenpark zieht sich als schmales Band durch den gesamten Stadtteil, vorbei am Krankenhaus St.Georg und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften bis zur Hamburger Hauptfeuerwache am Berliner Tor - und dann wäre da noch die Alster, aber dorthin komme ich im zweiten Teil.

Fotos (fast alles Kulturdenkmäler): Kirchenallee - Deutsches Schauspielhaus - Bieberhaus - Hauptbahnhof - Hansaplatz - Hansabrunnen - Neuer Mariendom - Lohmühlenpark - Hochschule - Hauptfeuerwache - Ferdinand-Beit-Straße - Erstes Amalienstift - Centrum-Moschee - Wachgebäude Steintor - Gewerkschaftshaus Besenbinderhof - ZOB -  Museum für Kunst und Gewerbe
Musik (vielfältig): Dissidenten - Life At The Pyramids / Arab Shadows